Zeilen und Tage
waren.
16. Juni, Karlsruhe
Jeder sieht, es ist höchste Zeit, die Europäische Union aufzulösen. Bei der möglichen Gründung einer EU2 bekommen die Beteiligten eine Gelegenheit, sich die Motive ihrer Mitgliedschaft genauer zu überlegen. Natürlich wären die Nein-Nationen, die Iren, die Franzosen, die Niederländer, die ersten, die gern nocheinmal dabei wären. Die Briten würde man aufgrund schlechter Erfahrungen mit ihnen bei einem zweiten Versuch nicht wieder einladen.
Der eben bekannt werdende Vorstoß von 500 katholischen Bischöfen – ca. ein Fünftel des Weltkollegiums – zur Rangerhöhung Marias ist nicht nur wegen des fabelhaften Anachronismus bemerkenswert (was direkt nach einer Theorie der Eigenzeit in abgedichteten Institutionen verlangt), sondern mehr noch wegen des Begriffs »Miterlöserin«, der künftig auf die erste Dame der Christenheit angewendet werden soll. Nicht nur der Geist der Arbeitsteilung greift auf Gottes Handwerk über, auch der Geist der Gleichberechtigung bzw. der Gleichkompetenz von Frauen zeigt dogmatische Konsequenzen. Der Vatikan könnte jetzt bei der Frauenquote Maßstäbe setzen. Falls die Initiative Erfolg hätte, würde man über kurz oder lang am Nockherberg in München neben Salvator auch Ko-Salvator ausschenken.
17. Juni, Karlsruhe
Am kühlen Vormittag wandern mir Gedanken durch den Kopf, die ein Geriater ohne Mühe als Anzeichen von beginnendem Altersradikalismus deuten könnte. Zum Beispiel die Idee einer schnellen moralischen Eingreiftruppe, die gewisse Halunken im Stil des großen Luigi Vampi, des Edelräubers aus Der Graf von Monte Christo , aus dem Verkehr zieht.
Der Furet-Schüler Patrice Gueniffey, Autor eines beachtlichen Buchs über den 18. Brumaire − Le 18 brumaire. L’épilogue de la Révolution française, 9-10 novembre 1799 (vom Perlentaucher aufgrund umfassender Halbbildung für den von Napoleon III. gehalten) −, bemerkt über das Phantom der »reifen Demokratie«: »Keiner glaubt daran, aber niemand denkt daran, sie zu verwerfen.« Man könnte diese Bemerkung auch als einen Beitrag zurTheorie der noblen Lüge lesen. Demnach hätten die Belogenen sich mit ihrer Lage in einer Welt unglaubwürdiger Versprechungen abgefunden. Wenn aber wirklich niemand an die Demokratie glaubt, was soll man von den Bürgern halten, die sich anstellen, als wollten sie die Verfassung beim Wort nehmen? Sie müßten allesamt listige Provokateure sein, die das System zu Fall bringen möchten, indem sie so tun, als glaubten sie an seine Versprechen, obwohl sie wissen, daß sie hohl sind. Wie es sich damit verhält, ließe sich nur durch Reihenuntersuchungen an Mitgliedern von Bürgerinitiativen und Parteitagen herausfinden. Das Ergebnis wäre wahrscheinlich, daß in der »reifen Demokratie« viel mehr Naivität, Trotz und unironische Einsatzbereitschaft am Werk sind, als die abgeklärten Kommentatoren zu vermuten wagen.
Keiko Sei erzählt (Karlsruher Tischgespräche), es gebe in Ostasien (China? Japan? Südkorea?) Textilfabriken, die eigens auf die Herstellung von israelischen Fahnen und von US-Flaggen spezialisiert sind, da sie weltweit zu den meistverbrannten zählen. Die Nachfrage sei konstant, die Betriebe ausgelastet. Das Zubehör zum spontanen Ausdruck des Volkszorns reist, wenn es sein muß, mit Containerschiffen rund um den Globus.
Eine Substanz mit dem philosophischen Namen Resveratrol verhindert, wie man jüngst erkannt hat, die Alterung des Herzens und wirkt auf den Körper insgesamt so vorteilhaft wie kalorienarme Kost. Und dies schon bei Dosierungen, die deutlich niedriger liegen als eine Flasche Rotwein täglich – dieser ist gottlob der populäre Träger des bezeichneten Inhaltsstoffs.
19. Juni, Karlsruhe
Fellinger wünscht von mir eine Zusage, sei es auch nur pro forma, die Laudatio auf Bruno Latour zu halten, damit der Verlag die Nachricht von der Verleihung des diesjährigen SiegfriedUnseld-Preises publizieren kann. Wie lange wird man daran arbeiten müssen, bis der Unseld-Preis ähnlich renommiert wird wie der gestern verliehene Prinz-von-Asturien-Preis, der diesmal in der für uns interessanten Kategorie an Tzvetan Todorov gegangen ist?
20. Juni, Karlsruhe
Hugo Ball in seinem Buch über Hermann Hesse (S. 137), am Vorabend des Ersten Weltkriegs: »Nur noch den Schmerzen darf man vertrauen; nur noch der Krankheit vielleicht.« Das übrige, das sich für gesund hält, wird Teil des Massenwahns.
Noch einmal zur Referendum-Frage. Die Spezialisten
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