Zeilen und Tage
reisen nach Irland, um »vor Ort« die Gründe des Nein zu untersuchen. Sie finden ein Konglomerat aus Negativitäten vor, das kompliziert ist wie das Ursprungschaos. Aus Frankreich ertönt Beifall, Le Pen spricht von einem historischen Sieg des Nein, die paar übriggebliebenen Kommunisten tun es ihm gleich. Die katholischen Fundamentalisten Irlands wiederholen ihre Befürchtung, Brüssel habe das chinesische Einheitssystem auf der Grünen Insel durchsetzen wollen. Angeblich war der Kopf der irischen Anti-Europäer, Declan Ganley, von amerikanischen Quellen finanziert worden, man sagt ihm nach, er habe für den Nein-Wahlkampf mehr Geld aus unklaren Quellen einsetzen können als alle anderen Gruppierungen zusammengenommen. Er leugnet, ein Agent der USA zu sein, und will seine Kampagne ganz aus der eigenen Tasche bezahlt haben.
Aus Frankfurt das erste Exemplar von Theorie der Nachkriegszeiten . Das Büchlein wird die Erben der französischen Lügensysteme auf beiden Seiten ärgern und, wenn die Kriegslist funktioniert, ihre deutschen Partner aus dem Versteck locken.
21. Juni, Karlsruhe
Seltsam, welche Energien durch Siege freigesetzt werden. Nach dem Erfolg der Türken auf dem Rasen von Wien hörte man, erzählt Regina, die ganze Nacht über die Hupen der Autokorsi auf der Ringstraße. Am Bosporus hallten die Schiffssirenen übers Wasser, als ob die Zeit des Mahdi angebrochen wäre. In solchen Momenten wird die Macht von fusionären Gefühlen spürbar – Gänsehautkommunion, Akutsozialismus. Daß diese Episoden in der Regel aufs nationale Format beschränkt bleiben, nimmt ihnen nichts von ihrer entgrenzenden Energie. Alle Menschen werden Brüder, wenn man ein Tor mehr geschossen hat.
Aus der Sicht der Kantschen Kritik der Urteilskraft liegen Fußball-Siege im Mittelfeld zwischen dem Schönen und dem Erhabenen. Man gönnt dem Siegerpublikum die Ekstase, weil man von außen die Gefährlichkeit der nationalen Fusionen wahrnimmt. Man ist froh, wenn sie massenkulturell abgefackelt werden.
Nach Patrice Gueniffey war die Linie von Napoleons Politik ab 1804 unvermeidlich festgelegt, da er aus dem »unfrequentierbaren« königsmörderischen Staat Frankreich wieder eine für die übrigen Mächte Europas akzeptable Adresse machen mußte. Der erste Schurkenstaat der Moderne, das revolutionäre Frankreich, wurde als Empire wieder nahezu seriös. Es konnte zeitweilig in das System der Heiratspolitik zurückkehren, obwohl der Makel der Illegitimität an Napoleons Usurpation nie ganz zu tilgen war.
Napoleon zu Las Cases: »La vérité, c’est que je n’ai jamais été maître de mes mouvements, je n’ai jamais été tout à fait à moi…!« So redet der mächtigste Mann in der Geschichte Europas! Im Herzen des Heroismus ist das postheroische Bewußtsein schon ganz präsent. Je mächtiger der Held, desto tiefer ist seine Einsicht, daß alles von den Umständen bestimmt wird.
Hegels überzitierte Bemerkung (»Weltseele zu Pferde«) ist anders zu lesen als üblich. Auch für die Seele der Welt gilt das Gesetz, wonach Seele haben nicht Für-sich-Sein bedeutet, sondern Für-Anderes-Sein unter Aufrechterhaltung eines Minimums an Eigendasein. Genau das ist Medialität.
»Nie habe ich ganz mir gehört«, sagt der Mann, dessen Leben nichts anderes war als Krieg, Unternehmen, Aktion, Angriff.
Als alles schon fast zu Ende ist, am 1. Januar 1814, erklärt Napoleon den nutzlosen Deputierten, die er gleich danach heimschicken wird, warum er die Last der Diktatur auf sich genommen hat: »Was braucht Frankreich in diesem Augenblick? Keine Nationalversammlung, keine Redner, einen General. Ist einer unter Euch? … Was ist der Thron? Vier Bretter, bedeckt von einem Fetzen Samt: Doch, um in der Sprache der Monarchie zu reden: Der Thron bin ich.«
22. Juni, München
Warum der Ästhetizismus unvermeidlich lebensfeindlich ist: weil er eine Abneigung gegen zweitklassige Erzählungen erzeugt. Was ist das tägliche Leben anderes als eine zweitklassige Erzählung? Neue Vorhänge im Kinderzimmer, neue Matratzen im Schlafzimmer, neue Farben an den Wänden im Flur, fünfzig Prozent Rabatt, das ist das Glück.
Das Üben wirkt als Transformator zwischen Aktivität und Passivität. Was bringt die Moderne denn an Neuem in die Welt? Das Konzert, die Ausstellung, die Oper, die Romanlektüre, das Theater, den Film, den Zuschauersport – Übungsformen stets derselben Figur: sich passiv machen, um aktiv werden zu können.
Im Fitness-Studio ein Plakat mit
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