Zeilen und Tage

Titel: Zeilen und Tage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Sloterdijk

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einer Leistung dieses Niveaus Hoffnungen machen, zur Zwischenprüfung zugelassen zu werden.
29. Mai, Lyon
    Olympia, die Mutter Alexanders, berief sich auf ihre Abstammung von Achilles, während Philipp II. für sich die Herkunft von Herakles reklamierte. Dem königlichen Subjekt ist es willkommen, einen Tat-Heros unter den Vorfahren zu haben. Solche Erzählungen erlauben beides, die Ich-Gründung aus der Herkunft und die Selbstbehauptung aus dem Ich-kann.
    Der antike Roman bietet in Handlungen projizierte platonische Schemata. So etwa das Buch Aithiopika von Heliodor, von dem sich Lorenzo il Magnifico 1491 ein Exemplar aus Byzanz besorgen ließ. Die Trennung der Liebenden spannt den Zeitfaden der Handlung. Das Maß der Liebe wird bestimmt durch die Summe der Hindernisse, die der vorhersehbaren Vereinigung in den Weg gestellt werden.
    Wo man auf eine platonisierende Haupthandlung dieses Typsverzichtet, tritt im Roman die polymythische Funktion in den Vordergrund. Durch die Form der Formlosigkeit entwickelt sich das Genre zu einem volkstümlichen Müllcontainer – einem decorated shed der Anekdoten. Wegwerfen und Aufbewahren kommen in diesen Sammelgeschichten auf das gleiche hinaus.
    Um Viertel nach sieben im Hotel Carlton im Zentrum von Lyon angelangt, einem von den plüschigen Etablissements im alten Frankreich, wo der Satz »Die Hölle sind die anderen« noch in den Tapeten hängt. Du öffnest die Fenster, siehst auf Mansarden, Kamine, gußeiserne Balkone und Antennen, alles wie früher. Der richtige Ort für einen Reisenden, der wie eine Figur aus einem psychologischen Roman zwischen ironischen und tragischen Beschreibungen seiner sentimentalen Zustände schwankt. Die Stimmung ist die eines Witwers, der sich von der Mitwelt ermahnen läßt, geh nicht unter, du wirst noch gebraucht.
    Mit Elisabeth und Maren im Bistrot de Lyon, einem gekachelten Lokal alten Stils in der Innenstadt, inmitten von sommerlichem Samstagabendvolk.
30. Mai, Lyon
    Am Morgen sind die Wasserspiele auf dem Platz vor dem Hotel abgeschaltet, als ob nicht der Sonntag der beste Springbrunnentag der Woche sein sollte.
    Wie Menschen verschiedener Zeiten die Asymmetrie zwischen der Kürze des Lebens und der Ewigkeit des Todes zu kompensieren suchten
    a) durch die Vorstellung der Wiederkehr der Ahnen in den Nachkommen
    b) durch die Vorstellung der individualisierten Reinkarnation
    c) durch die Idee der ewigen Fortdauer der noetischen Psyche
    d) durch die Vorstellung des ewigen Lebens in Person dank Auferstehung des Fleisches
    e) durch den Vorsatz, mittels Intensivierung des gegenwärtigen Lebens alle möglichen nächsten Leben überflüssig zu machen.
    Gegen acht Uhr das Podiumsgespräch mit Jean Birnbaum in der Villa Gillet vor großem Publikum, das über Erwarten gut gelang. Das Geheimnis des Erfolgs lag wohl darin, daß ich auf keine Frage direkt antwortete, sondern jedesmal eine weiter ausholende Geschichte erzählte, mit der man erst mal vertraut sein müßte, bevor an eine Antwort zu denken wäre. Das Publikum hatte das Spiel nach zwei, drei Zügen begriffen und amüsierte sich zunehmend über die Eskalationen der Umweg-Artistik in jeder folgenden Runde.
    Selten habe ich das Wort »formidable« so oft gehört wie an diesem Abend, zur einen Hälfte mit Bezug auf die eben beendete Veranstaltung, zur anderen in Berichten über die Darbietungen anderer Autoren. Der Organisator, planungsfreudig erregt, entfaltete wie eine sprechende Visitenkarte die Philosophie des Hauses, der zufolge es darum geht, ungefähr alles mit ungefähr allem ins Gespräch zu bringen.
    Danach mit Maren im Café des Négociants, wo wir bis Mitternacht im Freien sitzen und reden. Indien, Bücher, Liebe.
31. Mai, Karlsruhe
    Komme zurück in ein Land, das nach dem Eurovisions-Wochenende sich selbst feiert wie nach dem Wunder von Bern. Es klingt, als hätte das ganze Volk nach sehr langer Zeit wieder etwas völlig richtig gemacht.
    Von der Volkskrankheit Depression spricht das Feuilleton jede Woche, während man über die Volkskrankheiten Bedeutungslosigkeit und Erfolglosigkeit wenig hört – vermutlich deswegen,weil diejenigen, die kompetent darüber schreiben könnten, selbst zu sehr daran leiden, als daß sie das Thema aufbringen wollten. Von dem depressiven Dreieck sieht man darum nur die Spitze, die durch die klinische Bezeichnung einen offiziellen Status erhalten hat. Von dem unterirdischen Teil erfährt man nur indirekt durch das Verhalten der Betroffenen im Umgang mit