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Zeilen und Tage

Zeilen und Tage

Titel: Zeilen und Tage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Sloterdijk
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sind zwei Stunden aneinander Vorbeisehen genug.
    Den Sommertag feiern wie eine meteorologische Henkersmahlzeit.
26. Mai, Karlsruhe
    Simon Bolívar: »Wer der Revolution dient, pflügt das Meer.«
    Napoleon statuiert in Maximen und Gedanken , Herrschaft müsse als permanente Zurschaustellung von Macht ausgeübt werden. Macht haben und Macht zeigen konvergieren, solange die manifeste Herrschaft betroffen ist. Für die indirekten Gewalten gilt hingegen ein Zeigeverbot.
27. Mai, Interlaken
    Ich überreagiere, also bin ich.
    Auf dem Platz vor dem distinguierten Hotel tritt das Alphornbläser-Ensemble in Erscheinung, das überall schon da zu sein scheint, wo internationale Gäste eintreffen. Gleitschirmfliegertandems trudeln vom Himmel. Am Horizont der schneebedeckte Jungfrau-Gipfel, in Licht gebadet wie das Ding an sich der Schweiz.
    Wozu eine Seele besitzen, wenn sie ihre Kompetenz als Erlebnisveredelungsanstalt nicht unter Beweis stellt?
    Ich gehe dem Dinner der Schweizer Chirurgen aus dem Weg und ziehe es vor, den Abend en famille auf der Victoria-Terrasse zu verbringen. Sardischer Wein, versöhnlich stimmend.
    In der Beziehungskrise läuft der Liebesfilm rückwärts ab.
    Kein Tag ohne Gedanken an die Staatsschulden. Es ist bedauerlich, daß im System von Leibniz die Rolle des Fehlers nicht ausführlicher behandelt wurde. In dem Maß, wie der Großteil des »Seienden« als aus Handlungen hervorgebracht vorgestellt werden muß, nimmt die Bedeutung des Unterschieds zwischen Richtig und Falsch ständig zu. Man muß weniger Gottes Weisheit angesichts der Existenz des Übels verteidigen als das Vertrauen in die Zivilisation angesichts der von uns selbst begangenen Fehler.
    Neben dem Fehler sinkt das Böse zu einer Größe zweiter Ordnung ab.
    Hermann Cohen zufolge wäre die Weltzeit als Prozeßzeit des Guten zu denken. Mit dem Leichtsinn des Professors, der nebenberuflich prophetisch tätig ist, meint er, er habe das Seine getan, sobald die Botschaft vom Guten bei der Öffentlichkeit deponiert ist. Daß zwischen dem Weitersagen und dem Verwirklichen ein Abgrund aufklafft, den der gute Wille nicht überwindet, kümmert ihn wenig.
    In der Hotelhalle versammeln sich über hundert Personen in abendlicher Garderobe, offensichtlich in Erwartung der Abholung zu einem festlichen Event in der näheren Umgebung. Als ich in informeller Kleidung an die Rezeption gehe, um nach einem Code für den Internetzugang zu fragen, werde ich vom Concierge angesprochen, ob ich der Busfahrer sei.
    Abseits des Trubels sitzen in einer Nische drei alte Inderinnen auf Ledersesseln, sehr distinguiert, entrückt, fahl, mineralisch. Selten habe ich menschliche Wesen gesehen, die so eingeäschert wirkten. Ihre Aura scheint zu sagen, sie seien nach ihrer Verbrennung zwischendurch in gebrauchte Körper gefahren, um vor der nächsten Inkarnation eine Gelegenheit zu haben, die in Indien so berühmten Schweizer Berge zu sehen.
28. Mai, Interlaken
    Die vorbereitenden Lektüren für das öffentliche Gespräch in Lyon über Philosophie und Roman werden zu einer sentimentalen Reise in die marxistisch-germanistische Provinz. Halb mit melancholischem Bedauern, halb mit distanzierter Erheiterung lese ich das Vorwort wieder, das Lukács 1962 zu seiner 1914 entstandenen, 1920 veröffentlichten Theorie des Romans verfaßte, worin er im Ton eines Manns, der immer vom höchsten Hügel herab doziert, Ernst Bloch den Vorwurf macht, er verbinde eine »linke Ethik« mit einer »rechten Erkenntnistheorie« – als ob es das eine oder das andere außerhalb von Kadertheoriephantasmen gewisser Ostblock-Intellektueller je gegeben habe. Tatsächlich bestand der Reiz dieses waffentragenden Hegelianismus darin,den Benutzern solcher Sprachspiele das Gefühl grenzenloser Überlegenheit über die Reflexionen der westlichen »bürgerlichen« Autoren zu vermitteln.
    In demselben Stück findet sich die ihrer neidgetriebenen Gehässigkeit wegen oft wiederholte Bemerkung über Adorno und Co., die von Lukács als Gäste im Grand Hotel Abgrund abgefertigt werden.
    Nach dem ersten Kapitel lege ich das Buch aus der Hand. Es ist evident, daß es die Prüfung durch die Zeit in keiner Weise bestanden hat. Der verstimmte Leser zieht den Schluß, da habe ein von lebensphilosophischen Klischees umnebelter Abiturient eine hochmütige Fingerübung angefertigt, von der man sich im Rückblick wundert, wie sie je bewundernde Rezipienten finden konnte. Hundert Jahre später könnte sich kein Student mit

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