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Zeilen und Tage

Zeilen und Tage

Titel: Zeilen und Tage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Sloterdijk
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unter Napoleon III. die Operette als Leitmedium der metropolitanen Lockerung durchsetzte
    d) wie sich im absolutistischen Fiskus die chronische Staatsverschuldung einnistete, beruhend auf der Erkenntnis, daß man heute schon das Fell verkaufen kann, das man dem Bürger morgen über die Ohren ziehen wird
    e) wie der Kundenkredit die alte Sparmoral aushöhlte
    f) wie die modernen Staaten durch Inflation das ökonomische Ernstsystem unterwanderten
    g) wie die Literatur des Absurden die Zerstörung des Decorum-Bewußtseins vorantrieb
    h) wie die Zentralbanken Japans und der USA mit Null-Zins-Darlehen die Spekulation entfesselten
    i) wie die Konfusion der Wirtschaftswissenschaften angesichts der Krise einer breiten Öffentlichkeit den Beweis lieferte, daß die große Koalition der Ahnungslosen regiert.
14. Mai, Karlsruhe
    Aus München die Bestätigung der Nachricht: Die Staatsoper wünscht, eine Kooperation zwischen dem Komponisten Jörg Widmann und mir für ein Opern-Projekt über das Motiv »Babylon« auf den Weg zu bringen.
    Im Bundesverfassungsgericht heute vormittag in Anwesenheit von Bundespräsident und Kanzlerin die Verabschiedung von Professor Papier und die Amtseinführung von Professor Voßkuhle.
    Mein Sitzplatz weiter hinten im Publikum gab Gelegenheit, alle Abstufungen von Grauhaarigkeit in den vorderen Reihen zu beobachten. Nie war die Honoratiorenfarbe so imposant vertreten wie an diesem Tag, die Nicht-Grauen fielen dagegen ab.
15. Mai, Karlsruhe
    Man kann es nicht mehr verkennen: Der Übergang in die Ära der Hypno-Politik ist vollzogen. Seit Monaten ist allen mit der Sache Befaßten klar, daß das kleine Griechenland seine Riesenschuld nicht tilgen wird. Die Hypno-Politiker haben sich einen Apparat von Thesen zurechtgelegt, mit deren Hilfe sich diese Evidenz abstreiten läßt. Wenn Bankfachleute wie Axel Weber oder Josef Ackermann Zweifel an der Gediegenheit der politischen Beschlüsse zur Stützung Griechenlands äußern, erhalten sie aus Berlin eine Rüge: Die Bemerkungen der Herren seien zu dieser Stunde »nicht hilfreich«. Sie gefährden die Hypno-Allianz, in der die europäische Politik ihre raison d’être sucht. Trotzdemhaben es alle in den Nerven: Die Zeit läuft ab, in der das Suggerieren noch geholfen hat.
    Bilder des Tages vom Giro d’Italia, real und symbolisch: Bergankunft im Nebel.
17. Mai, Karlsruhe
    Weiter zur Hypno-Politik: Sag die Wahrheit, und die Börsen reagieren mit Kursstürzen. Fordere eine Bildungsoffensive, und die Mienen der Älteren verfinstern sich.
    2009 wurden in Deutschland 651000 Kinder geboren, dieser Zahl stehen 600000 Auswanderungen und 842000 Todesfälle gegenüber. Über Zuwanderer keine Zahlen.
    Im Regime der Hypno-Politik wird nicht verantwortbares Handeln als exzellente Form des situationsgerechten Gebarens präsentiert. Mehr und mehr nimmt die Wirtschaftspolitik die Form einer Spekulation zweiter Ordnung an. Regierungen werden zu Casinos, die Wetten auf die Wirksamkeit ihrer Maßnahmen entgegennehmen.
    Führe mit Jean Birnbaum über Mittag ein langes Interview im Vorfeld der Assises du roman in Lyon am 30. Mai, das übermorgen in Le Monde erscheinen soll.
18. Mai, Karlsruhe
    Mit dem weltweit beobachteten Bienenvölkersterben gerät eine achttausendjährige Kohabitation von Menschen, Pflanzen und Insekten in eine Krise von unabsehbaren Auswirkungen. Studien zu diesem Phänomen geben Anlaß, das Konzept »Gruppenimmunität« weiterzuentwickeln.
    Man wird nie Schafe züchten können, die gegen Wölfe resistent sind.
19. Mai, Karlsruhe
    Ursulas Geburtstag. Erreiche nur den Anrufbeantworter.
    Dirk Baecker verteidigt die Informationserzeugung durch Börsen-Mechanismen: Keine Gesellschaft der Gegenwart könne auf die crowd intelligence der Spekulation verzichten, auch wenn deren Resultate oft schmerzhaft wahrgenommen werden. Auf die Spekulanten zu verzichten wäre gleichbedeutend mit dem Verzicht auf die Boten, deren Aufgabe es ist, die schlechte Nachricht zu überbringen.
    Baecker denkt bei »schlechter Nachricht« bevorzugt an Vorgänge in der Finanzwelt. Ist aber nicht die gesamte westliche Realitätskonstruktion seit längerem nur noch ein Parallelogramm aus schlechten Nachrichten? Im Pluralismus der Dysangelien macht sich der Effekt geltend, daß sich kein Mensch alle schlechten Nachrichten gleichzeitig präsent halten kann. Aktuell hat man es immer nur mit der schlimmsten zu tun. Indem diese die übrigen momentan übertönt, hilft sie mit bei der Erzeugung des

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