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Zeilen und Tage

Zeilen und Tage

Titel: Zeilen und Tage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Sloterdijk
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Anscheins, man müsse nur mit ihr zu Rande kommen, um in eine aufgeräumte Welt zurückzukehren.
    Frank Schirrmacher weist am Telefon auf einen, wie er meint, durchbruchsartigen Artikel hin, der morgen in Science erscheint. Darin berichtet Craig Venter über die Erzeugung von synthetischem Leben via genetischer Veränderung von Bakterien.
20. Mai, Karlsruhe
    In der Frankfurter Rundschau würdigt Christine Pries sehr schön den verstorbenen Ludwig von Friedeburg als Hüter des Erbes von Adorno und als Direktor des Instituts für Sozialforschung. Ich war ihm nur ein einziges Mal begegnet. Bei dieser Gelegenheit hörte ich ihn Lobendes über den Radikaldemokraten und Volkspädagogen Bazon Brock sagen. Warum wohl die Verfasserin des Nachrufs nicht von der besten Tugend des Verstorbenen spricht: seiner Fähigkeit, den Leistungen und Ansichten anderer mit aufrichtiger Anerkennung zu begegnen?
    Neues von der Escort-Front. Unter arrangement seekers & sugar daddy.com wird für zeitgerechte Formen mäzenatischer Semi-Prostitution geworben: »Ambitious & attractive girls seeking successful and generous benefactors to fulfill their lifestyle needs.« Für einen Theoretiker der progressiven Explikation impliziter Bedeutungen sind solche Formulierungen begeisternd informativ: Sie explizieren den decodierten erotischen Kontrakt als »bedingte Duldung männlicher Nähe im Feld nicht-familienkompatibler Begegnungen auf der Grundlage hoher monetärer Satisfaktionen«.
    Aus der französischen Anarchoszene wird in den letzten Monaten ein Traktat importiert, der dort seit 2007 zirkuliert: Die kommende Insurrektion . Darin sind von einem »unsichtbaren Comité« alle Zutaten zu den politischen Liebestränken des abgelaufenen Jahrhunderts neu zusammengerührt worden: Jugendfeier; Stadtfeindschaft; Katastrophenlust; Lob der reinen Initiative; romantische Klandestinität; Unbestimmtheit von Tag und Stunde; Umdeutung des erhofften Zusammenbruchs in Aufruhr; Souveränität der Ohnmächtigen; Kult der Unterbrechung; Lust an der Sabotage, Hochrechnen von lokalen Pannen zum globalen Systemversagen. Das alles in einem Schneegestöber von Vokabeln wie »Empire«, »Werden«, »Dispositive«, »Dezentralität«, mit denen die unbekannten Autoren für die hysterische Verwechslung von Tat und Ereignis plädieren. Tatsächlich bräuchte eine Revolution dieses Typs keine Revolutionäre mehr, da sie keine Tat, sondern eine Kollapswelle wäre, auf der die jungen Event-Verbraucher surfen. Die hypno-rhetorische Linke ist sehr viel mehr, als sie selber weiß, ein Kind ihrer neo-liberalen Zeit. Von den Sprechmustern ihrer vermeintlichen Gegner unterscheidet sie sich nur durch ihr überventiliertes Vokabular. Es ist, als kämen Deleuze, Debord und Negri im dark room einer Diskothek zusammen, um sich gegenseitig von hinten ein Kind zu machen.
    Heute in Le Monde das Gespräch mit Birnbaum: »Pour être philosophe il faut devenir un personnage de roman.«
21. Mai, Karlsruhe
    Das letzte Spruchband: Oligarchie für alle!
22. Mai, Althütte
    In Kants Sprachgebrauch fällt ein durchaus positiver Begriff von Disziplin auf. Nach ihm unterwerfen sich Menschen der Disziplin, weil diese den Gemeinsinn in ihnen stärkt und sie dadurch veredelt. Was erneut zeigt, daß Zugänglichkeit für Vernunft ein Trainingseffekt ist.
    Kant selbst versteht die Liaison von Übung und Ratio nur halb und halb: Als Anthropologe gesteht er der Übung zu, was ihr gebührt, während er als Moralphilosoph von ihr nichts wissen will. Sobald er moralisiert, erhebt er die Forderung, jede richtige Tat müsse wie neugeboren aus der Quelle der guten Gesinnung hervorgehen, ohne sich auf die Krücke des Habitus zu stützen.Später wird Sartre diesen Irrtum wiederholen – nachdem er das Habituelle fatal und falsch in das »Träge« übersetzt hat. In diesem Punkt waren die Denker des Mittelalters hellsichtiger, wenn sie den Habitus als Basislager für den Aufschwung ins aktuell gute Handeln begriffen.
    Hauptsätze der Ikonodynamik:
    1 Jede Abbildung vermehrt das Seiende.
    2 Die Abbildung bewirkt die Entleerung des Seienden ins Bild und führt zum Wärmetod in der Wiedergabe.
    3 Was einmal auf der Bildstufe angekommen ist, kann nicht mehr ins Reale zurückgeführt werden.
    4 Sobald nur noch Bilder von Bildern erzeugt werden können, ist das Reale in den Bildern aufgegangen.
    5 Die Sorge um den möglichen Rest des Realen ist keine reale Sorge.
    An eine Passantin, auf dem Berg: Für eine unerfüllte Liebe

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