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Zeilen und Tage

Zeilen und Tage

Titel: Zeilen und Tage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Sloterdijk
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Bogen reichte von Odysseus, dem Vieldulder, und Aeneas, dem schwer geprüften Reisenden und Erzählenden, zu den Leidensartisten Montaigne, Rousseau, Heine, Nietzsche, Thomas Mann und Cioran, wobei ich drei Auszüge aus Hesses Psychologia balnearia von 1924 einbaute, im Mittelpunkt des Ganzen der groteske Kampf des nervenschwachen Kurgasts mit dem rotwangigen Holländer.
    Nach dem Vortrag kam ein Herr auf mich zu, der sich als Pfarrer vorstellte, Tillich-Schüler und Verfasser kleiner Essays, die er mir später ins Fach legte. Die Anwesenheit von Adolf Muschg, Atsuko Muschg und Volker Michels erlaubte Gespräche wie unter Freunden.
    Bei einer Waldwanderung (immer noch mit Knieproblemen) kommt der respektlose Gedanke, die Nadelbäume, die Fichten vor allem, seien eigentlich strohdumme Gewächse, ja, sie seien in Wahrheit übergeschnappte Gräser, die sich zu hybriden Wiesen zusammenrotten. Die werden von leichtgläubigen Wanderern für Wälder gehalten.
28. Juni, Sils Maria
    Unruhige Nacht wegen der ungewohnten Höhe. Das Hotel ist bis auf den letzten Raum ausgebucht, die Speisesäle sind überfüllt wie eine Mensa, viele Zimmer werden vom FC Basel okkupiert, der seine Fußballer zum Höhentraining über die Berge scheucht, junge semi-depressive Proleten, die mit den zerknitterten Bildungsbürgern bei Tisch seltsam kontrastieren. Wäre der Basler Fußball weniger mittelmäßig, denke ich mir, wären die Sportler, die im Trainingsanzug zum Frühstück erscheinen, die Herren im Haus. Gottlob haben die Schweizer bis auf weiteres größere Erfolge im Fußball noch nicht nötig.
    Lese weiter in Dietmar Daths Roman Die Abschaffung der Arten . Eine Meinung dazu habe ich mir noch nicht gebildet, doch ein Gefühl zeichnet sich ab, das mit einer Hypothese zusammengeht: daß die Genialität des Autors sich diesmal eine unlösbare Aufgabe gestellt hat. Er meint wohl, man kann aus einer Subkulturgattung wie dem Science-fiction-Roman eine Hochkulturgattung machen. Das gelänge nur mit einer Leserschaft, die auf beiden Seiten zu Hause ist. Aber die gibt es nicht. Man begreift das Risiko: Der Hoch- und Subkulturroman fällt zwischen die Genres. Er scheitert nach beiden Seiten – bedauerlicherweise, weil er nach beiden Seiten virtuos ansetzt.
30. Juni, Karlsruhe
    Zurück in der eigenen Wohnung mit einem Gefühl der Erleichterung. Nachklingende Bilder von den Wanderungen am Silser See und von einer Herde kleiner brauner Ziegen, die von einer jungen Bäuerin im roten Kleid gemolken wurden. Was heißt Bilder? Visionen, nicht von Kommendem, sondern aus einer verlorenen Zeit.
3. Juli, Karlsruhe
    Regentag. Man liest, der Menschenrechtsrat der United Nations habe den »Schutz religiöser Gefühle« höher eingestuft als das Recht auf Meinungsfreiheit. Ein historisches Datum. Die Schutzidee hat die höchste Ebene erreicht. Von jetzt an wird alles Immunologie. Die Welt ist die Summe aller Protektionismen. Die Protektionisten selbst nehmen hiervon zumeist nicht Kenntnis, weil wohlwollende Verhältnisse, indem sie reziprok schützend sind, den Schein von Schutz-nicht-nötig-haben erzeugen.
    Auf irgendeinem Dritten ein öder Film über Jean Moulin. Ein Défilé der üblichen Klischees über die Vichy-Regierung, die Résistance, de Gaulle, den konspirativen Patriotismus, heraufzitiert aus dem Orkus der linken und rechten Lebenslügen, die das Land seit 1944 im Griff haben.
5. Juli, Karlsruhe
    Nikolaus Sombart ist im Alter von 85 Jahren in einer Straßburger Klinik gestorben. Die Sonne scheint. Kinder spielen unter den Bäumen vor dem Fenster.
    Abends zu einer nachträglichen Geburtstagsfeier mit arabischer Küche bei Uta. Geschenke: Der Graf von Monte Christo mit Depardieu, schon ziemlich übergewichtig, auf DVD und eine Whisky-Rarität aus einer Destillerie in Bayern.
6. Juli, München
    Umlernen durch den Kontext. Die öfter martialisch rezitierte Maxime »mens sana in corpore sano« lautet bei Juvenal ( Satiren 10, 356): »Man muß darum beten, daß in einem robusten Körper sich auch ein gesunder Geist finde!« Das ist gar keine Turnlehrerdevise, sondern eine spöttische Äußerung vor dem Hintergrund der schon den Römern geläufigen Erfahrung, daß Geist und Körper längst getrennte Wege gehen.
    Idomeneo , heute in Dieter Dorns Inszenierung letztmalig im Cuvillés-Theater gegeben, bietet eine Handlung, die sich der ödipalen Mythologie diametral entgegensetzt: Der König von Kreta, auf dem Heimweg von Troja in Seenot geraten, gelobt, das

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