Zeilen und Tage
einer auf dem Rücken liegenden Frau, die ruft: Fit mich!
Mercedes (bei Pagnol?): »Ich war eifersüchtig auf das Meer.«
Wie München leuchtet, so der Tegernsee. Zwei schöne Stunden mit den Freunden auf der Terrasse im alten Furtwängler-Haus, dann zurück in die Stadt, wo wir einer Aufführung von Così fan tutte in der Inszenierung von Dieter Dorn beiwohnen, dreieinhalb Stunden in ständiger Augenhöhe mit einer inspirierten Interpretation und einer subtil durchgearbeiteten musikalischen Darbietung. Nach der Oper geht man zu Schumanns. Maria in Blassblau, so charmant, daß man in ihrer Nähe besser Handschellen trüge (du übertreibst schon wieder). Hubert jovial in Freizeitjacke mit Hirschhornknöpfen – einen davon überließ er mir aus einem unerfindlichen Grund als Präsent.
23. Juni, München
Die Encyclopédie definiert Melancholie als »le sentiment habituel de notre imperfection«. Spätere Theorien deuten sie als Spur eines übergroßen Verlusts. Nimmt man beide Deutungen zusammen, entsteht die Frage, welche Vollkommenheit man verloren haben könnte?
Nach jüngeren Statistiken gibt es in Deutschland 826000 »Millionäre«, sprich Personen, die mehr als 1 Million Euro an Privatvermögen besitzen. Weltweit sollen es 10,1 Millionen sein. Nach herkömmlichem Sprachgebrauch sind diese Leute natürlich keine echten Millionäre mehr, sondern gewöhnliche Wohlhabende, das bequeme 1 Prozent jeder Population. Die früher so genannten Millionäre haben sich nach oben abgesetzt, in die Vermögensstratosphäre, wo man mit dem Hundertfachen, dem Tausendfachen der simplen Million rechnet. Von den Lebenswirklichkeiten dieser sehr kleinen Gruppen wissen wir weniger als von verlorenen Stämmen am Amazonas.
26. Juni, Sils Maria, Waldhaus
Der Geburtstag sorgt dafür, daß du an die denkst, die an dich denken …
Regina bringt vom Frühspaziergang eine Enzianblüte mit, die sie samt Würzelchen ausgegraben hatte, sie wird im Glas einige Tage überleben.
Die Anreise in das ominöse Berghotel hatte unter keinem guten Stern gestanden. Nach einer achtstündigen Fahrt im eigenen Wagen hat man es nicht gern, an einen dichtbesetzten Tisch mit Unbekannten plaziert zu werden, von denen keiner vorgestellt wird, geschweige denn sich selbst bekannt macht. Man schätzt es auch nicht, in Konversationen zu geraten, wie man sie auf dem Jahresempfang der lederverarbeitenden Industrie erwartet.
Zu dem Herrn von der Rezeption, der wohl den Besitzern des Hotels nahesteht, sagte ich, während er uns zu dem überfüllten Speisesaal führte, der Weg hierherauf dauere so lang wie ein Flug nach New York. Er hielt es für ein Kompliment und meinte, ja, man liege nicht an der Hauptstraße und es kämen nur Leute hierher, die es zu schätzen wissen. Damit war der Ton gesetzt, Selbstgratulation auf der ganzen Linie – nach meinen bisherigen Erfahrungen eher ein unschweizerischer Zug.
Für Aufatmen sorgte dann der Rückzug in ein sehr schönes Turmzimmer mit Fenstern nach drei Seiten und königlichen Ausblicken auf den kühlen See, an dem Nietzsche wanderte, sechstausend Fuß, gleich 1800 Meter über Meereshöhe, jenseits von Mensch und Zeit, und auf die Felsenberge darüber, an denen er die Einfühlung ins Anorganische übte. Ich sog die schönen Bilder mit doppelter Wertschätzung in mich hinein, weil das Hier-Wohnen- und Hier-Hinausschauen-Dürfen mein Honorar war – steuerlich schwierig, aber unter Gentlemen praktikabel.
Wie alle auratischen Milieuhotels zieht das Waldhaus eine Klientel aus Einverstandenen und im voraus Begeisterten an, denennichts so fernliegt wie ein noch so diskreter kritischer Hinweis, der bei der Verbesserung des Komforts nach zeitgemäßen Maßstäben hilfreich sein könnte. Wäre man kritisch, man würde nicht in die Umgebung passen. Das sollte man mitbedenken, wenn man daran erinnert, daß Adorno viele Jahre Sommer für Sommer in dieser noblen Enklave wohnte. Ferien auf solcher Höhe sind affirmativ. Kritik gab es bei Adorno wieder nach Semesterbeginn in der Frankfurter Senke – 112 Meter über Normal-Null.
Zu einer halbwegs passablen Vorstellung geriet mein Eröffnungsvortrag für die diesjährigen Silser Hesse-Tage, an denen von Hermann Hesse in den europäischen und außereuropäischen Nationen die Rede sein soll. Für meinen »Auftritt«, halb Lesung, halb improvisierte Rede, hatte ich eine Collage aus zehn Kapiteln unter dem Titel: Der Kurgast und seine Brüder – oder: Hesses Patientia vorbereitet. Der
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