Zeilen und Tage
Jahre lang ständig mit Überschuldungen jongliert hatte. Eine europäische Kommission regelt die Abfindung der Gläubiger in einem Verfahren, das sichbis 1941 hinzieht. Die Botschaft der Griechen an den Rest der Welt ist von diesen Tagen an evident, auch wenn sie erst 120 Jahre später gehört wird: Die Angehörigen souveräner Staaten besitzen ein unveräußerliches Recht darauf, über ihre Verhältnisse zu leben. Souverän ist, wer über das Ausmaß des Ruins entscheidet. Vom vollzogenen Staatsbankrott an ist es mit der Souveränitäts-Illusion vorbei. Fügen wir hinzu: In diesem melancholischen Land, das weder über zivilgesellschaftliche Überlieferungen noch stabile Freiheitserfahrungen verfügt, war der Traum von souveräner Staatlichkeit von Anfang an nur eine kreditgestützte Episode. 400 Jahre osmanische Besetzung, dann eine importierte Monarchie, später eine Junta von Gläubigern und ihren lokalen Handlangern an der Macht, dann deutsche Truppen, ein kleiner Demokratieversuch, beendet durch landeseigene Offiziere, dann wieder Demokratie auf Pump und zu schlimmer Letzt erneut die internationalen Gläubigerorgane.
Das ergibt ein aktuelles Seminar: Zur Psychopolitik postsouveräner Staatsfiktionen.
Auf Gut Habichtshorst bei Münster kommt es zu dem seit längerem geplanten Podiumsgespräch mit Jean-Claude Juncker über europäische Perspektiven. Dabei bewährt sich mein europa-politischer Standardaufsatz zur Psychopolitik der Alten Welt wieder recht gut – ausgehend von der Gestalt des Aeneas, der in Troja scheiterte, um in Italien neu anfangen zu dürfen –, um von der Standarddisziplin des Sichzusammennehmens an labilen Tagen nicht zu reden.
15. September, Karlsruhe
Durch die unzeitigen Reisen der vorhersagbare Gripperückfall.
In der Wendung Life, Liberty and Pursuit of happiness wird die moderne Schatzsuche formalisiert. Seit Kolumbus ist alles Denken mit Realitätsbezug die permanente Umschreibung des Strebens nach leichtem Reichtum in den Idiomen der Zeiten.
19. September, Karlsruhe
Goethe über die Folgen der Französischen Revolution: Bis dahin war alles Streben, danach war alles Fordern.
21. September, Karlsruhe
Wer die roten Fäden meiner Arbeiten seit der Kritik der zynischen Vernunft suchte, hätte sie finden können in dem sich nach und nach verdeutlichenden Programm einer Umwandlung von Metaphysik in Allgemeine Immunologie und in den diversen Anläufen zu einer Theorie der Psychopolitik, die von dem Essay Im selben Boot über Zorn und Zeit und Der starke Grund zusammen zu sein bis zu den Überlegungen über eine thymotische Steuerreform reichen. Schade, daß Hans-Jürgen Heinrichs in seinem wohlwollend bemühten Buch davon kaum etwas wahrnimmt und nie die richtigen Oberbegriffe bildet.
Von Michael Krüger kommt ein Brief, in dem er seine Ratlosigkeit angesichts des Manuskripts von HJH gesteht – er hält das Werk, nach so vielen Korrekturen, für nicht mehr verbesserbar und immer noch nicht gut. Er winkt es resigniert zur Publikation durch, obschon er seine Mängel schärfer sieht als irgendwer sonst. Mir bleibt nichts übrig, als den Kopf einzuziehen und zu denken, daß auch dies vorübergeht.
Es ist der lethargische Leichtsinn der Steuer- und Schuldenstaaten, die die agile Frivolität der Finanzmärkte vorantreibt. Man entdeckt nicht einen unter den Finanzministern in Europa und in den USA, der nicht vorgibt, die Konjunktur am Laufen halten zu wollen. Um dieses Ziels willen, das ihr summum bonum ist, nehmen sie den Hexensabbat der Spekulation in Kauf, den sie kraft offizieller Zentralbankpolitik – Flutung der Märkte mit unverantwortlich billigem Geld – entfesseln. Dann geben sie besorgte Interviews und erklären vor entnervtem Publikum, wie gern sie der Spekulation Zügel anlegen würden.
23. September, Hamburg
Benutze das helle Erkerzimmer im Atlantic als Krankenstube, mache Skizzen für den Vortrag am Nachmittag und schaue auf die Innenalster, wo früh am Vormittag die ersten Segelboote aufkreuzen.
Auf einem Konzil nach der Rückkehr des Kolumbus wird statuiert: »Wenn die ganze Erde das Evangelium empfangen hat, ist das Ende da.« Was zeigt: Schon der frühneuzeitliche Katholizismus dachte millenaristisch. Voegelin greift also daneben, wenn er in seinem anti-protestantischen und anti-gnostischen Furor die Volk-Gottes-Bewegungen der Neuzeit bloß als Abirrungen vom Weg der Vernunft kata holon denunziert.
Zu der Integrationsdebatte, die sich nach Sarrazins halbplausiblen
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