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Zeilen und Tage

Zeilen und Tage

Titel: Zeilen und Tage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Sloterdijk
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Synode. Die Mehrheit der Delegierten glaubt allen Ernstes – aber was ist Ernst in solchen Fragen? –, es sei moralisch besser, sich dem Fortpflanzungszufall zu beugen, als ihn gegebenenfalls zu lenken. In diesem Votum vernimmt man den Nachhall des Prädestinationsgedankens, der aus der Absorption des antiken Schicksals durch die Schöpfungstheologie entstand. Für die christliche Ontologie ist der Mensch das Tier, das sich unterwirft – auch dem genetischen Fatum, das als getaufter Zufall am Himmel aufgehängt wird.
20. November, Karlsruhe
    Unruhe über die Schließung von philosophischen Departments an englischen Universitäten. Natürlich ist alle Welt mit den Betroffenen solidarisch und geißelt zu Recht die Borniertheit der Verantwortlichen. Wie wäre es aber, wenn einer der Beamten, die den Rotstift ansetzten, nur ein Wittgenstein-Leser war? Sollte es wirklich bloß darum gehen, der Fliege aus dem Fliegenglas zu helfen, warum nicht gleich das Glas in Scherben legen?
    »Wie kommt es, daß Verbrecher noch immer sehr vielen Vorurteilen begegnen, auch bei den Gebildeten?«
    Der Haß auf die Freiheit stellt den uneingestehbaren Affekt par excellence dar – noch weit vor dem Neid, der schon kaum je zugegeben wird. Daher muß man sich auf diesem Gebiet für alle Zeit mit Indizienprozessen begnügen. Man spürt die Sache überall und findet nie einen Täter, der gesteht.
    George W. Bush: »I know the human being and fish can coexist peacefully.«
    Von Jürgen Klaucke ein schönes Foto als Gegengabe für meinen Katalogbeitrag zu seiner Karlsruhe Ausstellung Ästhetische Paranoia.

Heft 109
    22. November 2010 – 26. Januar 2011
22. November, Karlsruhe
    Andere nehmen Tabletten, du läßt das Licht an.
    Immer wieder J.G. Fichte: »Die meisten Menschen würden leichter dahin zu bringen seyn, sich für ein Stück Lava im Monde als für ein Ich zu halten.« Sag statt Lava Gehirn, und du bist auf der Höhe der Diskussion.
    An der Mehrzahl der Kritiken zu Du mußt dein Leben ändern ist abzulesen, daß das Programm einer immunologischen Zweitbeschreibung der Metaphysik fast reflexhaft als »naturalistisches« Reduktionsvorhaben aufgefaßt wird. Gibt das Anlaß zu einer größeren Richtigstellung? Oder sollte der Hinweis genügen, wonach Immunität ein juristisch-humanwissenschaftliches Konzept ist, das an die Biologie ausgeliehen wurde? Die Massivität des Motivs Immunität – als institutionalisierte Verletzungserwartung begriffen, die zuerst im Ritual manifest wird, später im Recht und ganz zuletzt in den Lebenswissenschaften – läßt sich daran ablesen, daß das Im-voraus-auf-Schaden-gefaßt-Sein eine evolutionäre Konstante darstellt, jenseits der Unterscheidung von Organismus und Gesellschaft. Der immunitäre Imperativ reicht von den einfachen Lebewesen bis zu den Imperien und ihren Überwölbungen in »Weltbildern« mitsamt ihren Verinnerlichungen in Gebetbüchern.
    Richard Wolin, Wind from the East , 2010, schildert nicht ohne Ironie, wie das völlige Mißverständnis der chinesischen Kulturrevolution durch französische Intellektuelle in den sechziger und siebziger Jahren paradoxerweise progressive Tugenden freisetzte, als wäre der maoistische Wahnsinn für junge Europäer von damals ein mögliches, wenn schon nicht notwendiges Stadium der Reife gewesen. Daß die meisten sich später von ihrer Verehrung der Mao-Attrappen leise davonstahlen, steht auf einem anderen Blatt. Unterstützt wurde ihre intime Selbstamnestie von der öffentlichen Gleichgültigkeit gegenüber Irrungen, die zu verworren waren, als daß jemand sich die Mühe hätte machen wollen, sie zu verfolgen.
24. November, Karlsruhe
    Im Fernsehen der Bericht über eine Arbeit des Fotografen Martin Liebscher, der seit längerem mit dem Motiv der Selbstvervielfachung experimentiert, um dem Schreckensthema Cloning die amüsante Seite abzugewinnen. Irgendwie muß es ihm gelungen sein, für einen Tag oder eine Nacht das leere Mailander Teatro alla Scala zu mieten, um ein Projekt von einiger Komik zu realisieren: Der Reihe nach setzte er sich auf sämtliche 2300 Plätze des Hauses in diversen Posen, im Parkett wie auf den Rängen, und fotografierte sich selbst, um danach in endloser Arbeit ein Bild des vollbesetzten Theaters zu montieren, in dem auf allen Plätzen derselbe Mann sitzt.
    Auch dieses Projekt regt dazu an, über den »Narzißmus« anders als üblich zu urteilen. Dem Handicap-Prinzip zufolge legt der Fotomontagekünstler, in der Nachfolge der

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