Zeilen und Tage
Virtuosen, seine überdurchschnittliche Fitness offen, indem er sich mit einem einzigen Bild mehr Mühe macht als andere mit einer großen Retrospektive.
Im Anschluß an ein Feature über Philippe Pétain im Fernsehen notiert: Für den damals 60jährigen General – er ist als 1856 Geborener ein Jahrgangsgenosse Sigmund Freuds – bietet der ErsteWeltkrieg einen Tummelplatz für polygame Aktivitäten. Den Marschalltitel erhält er unmittelbar nach dem Ende des Krieges. Er heiratet 1920 im Alter von 64 Jahren. Im Sommer 1940 sieht er sich, 84jährig, an die Spitze eines Landes in Auflösung versetzt, 8 Millionen Franzosen sind auf der Flucht. Die Regierung weicht zuerst nach Bordeaux aus, dann, als die deutschen Truppen die Atlantikküste erreichen, in den Badeort Vichy – ein Name, der nach dem Krieg synonym wird mit französischer Schande – ein Komplex aus Diktatur und sanitärer Idylle. Dort posiert der alte Herr für die Geschichte, er will neben Mussolini, Franco und Hitler als wohltätig konservativer Revolutionär wahrgenommen werden – als jener, der die französischen Dekadenz aufhält, die er bis 1789 zurückdatiert. Ein Führersystem à la française soll entstehen, organisiert um das Grundwort rassemblement – das bis heute im politischen Wortschatz des Landes leitmotivische Funktionen wahrnimmt, auch auf dem linken Flügel, wo es aufgrund heftiger Zersplitterungen immer viel zu rassemblieren gibt. La révolution nationale est en marche.
Im nicht-besetzten Teil Frankreichs wird Pétain, nach einer Aussage Badinters, wie ein Heiliger verehrt. Sein Wahlspruch: Loyauté, partout, toujours. Was man die »Kollaboration« nennt, ist im wesentlichen sein Werk, auch in ihren dunkelsten Aspekten. De Gaulle wandelt das 1945 über den fast 90jährigen gesprochene Todesurteil um in lebenslange Verbannung auf die Ile d’Yeu vor der französischen Atlantikküste – denn: auch Vichy ist Frankreich. In der Nacht nach seinem Tod am 23. Juli 1951 versammelt sich in Paris eine Menge am Arc de Triomphe und legt vor dem Denkmal des Unbekannten Soldaten Blumen in der Form eines riesigen Kreuzes nieder. Alle französischen Präsidenten bis einschließlich Mitterrand halten an dem Usus fest, an Pétains Grab und an der Gedenkstätte von Douaumont Ehrenzeichen für den Marschall zu deponieren.
25. November, Karlsruhe
Finde beim Durchkämmen älterer Ordner einen Hinweis auf einen Doktoranden aus Wien und seinen bizarren Plan, an der dortigen katholischen Fakultät eine Dissertation über zwei moderne »Sucher nach dem Heiligen« zu verfassen, Simone Weil, die »Grenzgängerin«, und Peter Sloterdijk, den »Gaukler auf der Bühne«.
Was man in frommen Kreisen den »neuen Atheismus« nennt, ist nicht mehr der gute alte Glaube an die Inexistenz Gottes, sondern ein vormaliger Indifferentismus, dem angesichts der neuen Frechheit der Religiösen der Kragen platzt.
26. November, Berlin
Allez, enfants de la folie.
Erfahre von Elisabeth, daß Eric Alliez eine Professur in Paris erhalten hat. Ab sofort müßte die Kategorie des Wunders in seinem Denken die Schlüsselrolle spielen.
27. November, Wolfsburg
In Heinz Schlaffers Büchlein Die kurze Geschichte der deutschen Literatur , die 2003 kurzzeitig Aufsehen erregte, findet sich der Hinweis, in wie hohem Maß die deutsche Literatur bei ihrer ersten Blüte ab 1750 protestantisch, studentisch-universitätsnah und vagabundisch geprägt war.
Hier liegt der ungewöhnliche Fall vor, bei dem ein Wissenschaftler mit der These herausrückt, den Gegenstand seines Fachs gebe es fast gar nicht. Der Verfasser meint sogar, eine Klassik habe inDeutschland nie existiert, allenfalls als »Klassik unter vier Augen« – er vergißt hinzuzufügen, daß dies zur Not genügt, solange ein funktionierender nationaler Buchhandel gegeben ist.
Die zweite Kulmination der deutschen Literatur um 1900 habe im Zeichen katholischer und jüdischer Autoren gestanden. Was weiß man eigentlich, wenn man das weiß? Vielleicht, daß bedeutende Literatur auf dem Kompost der zerfallenden Religion wächst? Dann hätte Schlaffer nicht mehr als eine Fußnote zu dem Theorem von der ästhetischen Moderne als Säkularisationsprodukt geschrieben. Das komplementäre Theorem über Literatur und Verspätung wartet auf seine Formulierung.
Das letzte in Wolfsburg produzierte Quartett Universum ohne Gott mit Friedrich Wilhelm Graf und Gero von Randow gelang passabel und wurde vom Publikum als intensiv und kurzweilig
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