Zeilen und Tage
der großen Aufmachung diesmal die Regel »das Format ist die Botschaft« kaum anzuwenden sein wird.
Leopardi, zu seinem Herzen redend: »… e fango è il mundo«.
2. Dezember, Karlsruhe
Was tun? Die Arbeit im Weinberg der Übertreibung fortführen.
Am Vorabend der Operation: Die Sache so flach wie möglich halten. Den Gedanken keinen zu großen Raum geben, schon gar nicht nachts.
4. Dezember, Karlsruhe
Früh morgens bei Dunkelheit und Schnee mit dem Taxi in die Klinik. In einem Ambulanzzimmer wird der Patient für die Operation umgekleidet – jetzt trägt er das grüne Büßerhemd, das hinten offen ist, und die obligatorischen Trombosestrümpfe. Kurz vor acht geht es auf einem schmalen Rollbett in den Lift, von dort weiter in den Operationssaal, wo die Grüngekleideten warten, die gelernt haben, in aufgeschnittene Menschenkörper hineinzusehen. Jetzt ruhig in der Mitte der Fahrbahn bleiben und nicht die Ausfahrt in die Panik nehmen. Das Ambiente tut wenig, um den auf den OP-Tisch umgelagerten Patienten in sorgloser Stimmung zu halten. Der Chirurg wird erst nach Einsetzen der Narkose hinzukommen, sagt man mir, immerhin hat der Anästhesieassistent ein freundliches Wort, und eine ältere dünne OP-Schwester strahlt wenn schon nicht Mütterlichkeit, so doch erfahrene Gelassenheit aus.
Dann klopft es an meiner Schulter. Jemand sagt, die Operationist vorüber. Ich schaue auf die Uhr, es ist halb elf vorüber. Drei Mal länger als vorgesehen.
Am nächsten Morgen wach genug, um mit der Lektüre von Hermann Scheers Buch Politiker , 2003, fortzufahren. Sehr berührt vom Schlußkapitel, in dem Scheer seine existentielle Konfession ablegt: Das wahre Leben führt zur Politik.
Eine Operation unter Vollnarkose liefert den Ernstfall der Gelassenheitstheorie, wie sie in Du mußt dein Leben ändern rekapituliert wird. Nach der gemachten Erfahrung müßte ich kaum ein Wort vom dort Gesagten ändern. Das Sich-Operieren-Lassen ist der Akt, der das Passiv-Sein-Können als Eigenleistung des Patienten am deutlichsten spürbar macht, denn er ist nicht zu denken ohne meine Bereitschaft, das Gesetz des Handelns an den verbündeten aktiven Anderen abzugeben.
Der philosophisch empfindliche Punkt ist natürlich die Vollnarkose, durch die ich mich mit der Versetzung in den Zustand künstlicher Ohnmacht einverstanden erkläre. Es ist kein Zufall, daß man das »Aufklärungsgespräch« mit dem Anästhesisten führt – da er es ist, mit dem man den Vertrag über temporäres Wie-tot-Sein-im-eigenen-Interesse abschließt. Man trinkt einen Schierlingsbecher auf Zeit. Nach dem Erwachen bist du der Chemie einen Hahn schuldig.
Aldous Huxley nannte die Drogen »chemische Gnadensubstitute« – mit noch größerem Recht kann man die Narkosemittel so bezeichnen, ohne die sich die Ausweitung der Operationszone bei zeitgenössischen Menschen nicht vorstellen läßt. Man mag zur Freiheit verdammt sein, man ist glücklicherweise nicht länger zum wachen Daseinsein verdammt, wenn am eigenen Leib geschnitten und genäht wird.
Abends im Fernsehen: Der englische Patient . Darin erzählt der Held seiner Geliebten während einer Exkursion in die Wüste die herodotische Geschichte von einem Wind, dem Simoon, der einVolk so sehr gegen sich aufbrachte, daß die Krieger ihm in voller Rüstung entgegenzogen, mit gezückten Schwertern.
5. Dezember, Karlsruhe
Leonardo Sciascia erwähnt ein Sprichwort: »Wer sprechen kann, kommt übers Meer.«
Peter W. erscheint mit einem Gastgeschenk, das ihm ein Bewunderer übergeben hatte: einer Flasche Mouton Rothschild von 1982, einem Wein, der unter die größten Gewächse des letzten Jahrhunderts rechnet. Wir beschließen, der Anlaß, die Flasche zu öffnen, sei gegeben.
6. Dezember, Karlsruhe
Beruf: Sizilianist
In Friedrich Wilhelm Graf verbirgt sich ein Satiriker, der hin und wieder diskrete Proben seiner Kunst gibt – etwa wenn er sich über das Ausufern des Würde-Diskurses in fromm-dilettantischen Naturschutzbewegungen mokiert. So konstruiert er folgenden Fall: Die Würde der Schnecke ist unantastbar, doch kollidiert sie mit den Lebensrechten der Dahlie. Wie soll der Gärtner hierarchisieren? Muß er Schneckenwürde vor Dahlienschutz stellen ( Mißbrauchte Götter , S. 186) – oder, falls der Respekt vor der Schönheit der Pflanze Vorrang vor dem Freßtrieb des schleimigen Geschöpfs verdient, die entgegengesetzte Entscheidung treffen?
Die Welt ist voller Unantastbarkeiten, die Tag und Nacht angetastet werden,
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