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Zeilen und Tage

Zeilen und Tage

Titel: Zeilen und Tage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Sloterdijk
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mit dem Effekt, daß kein anständiger Mensch das Wort »Würde« mehr in den Mund nehmen kann, ohne sich für die Inflationsformel zu schämen. Grafs Empfehlung lautet: sichhüten vor überspanntem Selbstbildzwang und den »Bildvorbehalt« auf die menschliche Sphäre ausdehnen – ein ernstes Bilderverbot kann es ja im Universum der künstlichen Bilder nicht mehr geben! So formuliert ergibt Grafs Kritik des Vorbildkults doch guten Sinn.
    Im Gespräch mit Peter Voß auf SWR sagt Fritz J. Raddatz – dessen kürzlich erschienene Tagebücher von Frank Schirrmacher als der »Bildungsroman der älteren BRD« gepriesen werden –, er habe in Melancholie summa cum laude promoviert. Später, auf dem Gipfel der Komik, folgt der parasokratische Satz: »Manchmal denke ich, daß ich mich irre.«
8. Dezember, Karlsruhe
    Müdigkeit, mehrdimensional: Mitleidsmüdigkeit, Gebermüdigkeit, Gutwilligkeitsmüdigkeit, Solidaritätsmüdigkeit.
    Laß dir einen Krieg von den Kombattanten erklären: Du wirst glauben, es handle sich um völlig verschiedene Kämpfe, die zufällig auf demselben Terrain ausgetragen werden.
9. Dezember, Karlsruhe
    Slogan: Versammlungsort der gälisch-schottischen Clans.
    Carus schriebt in England und Schottland , I , S. 134: »Im Palais Royal ist alles, was man kaufen möchte, unerhört theuer, nur die Diners sind wohlfeil und die Langeweile hat man umsonst.«
11. Dezember, München
    »Ein einfacher Diener der Dame Großzügigkeit.«
    Die Maximilianstraße überflutet von den wohlhabenden Adventstouristen.
    In seinem Buch London – die Biographie begründet Peter Ackroyd die Gewaltneigung des Londoner Pöbels von einst mit einem Argument, das an Nietzsches Ableitung der sozialen Disziplin aus dem zivilisatorischen Zwang erinnert: Die aufgenötigte Zurückhaltung des Volkes disponiert es zu heftigen Ausbrüchen. »Die Hemmungen, die eine merkantile Kultur auferlegte, begünstigen die Flatterhaftigkeit der Wut.« Casanova erinnert sich, daß selbst die königliche Familie bei öffentlichen Auftritten ausgebuht wurde. Ihm schien der Londoner Mob der frechste der Welt zu sein. Ein Mann, der in höfischer Kleidung auf Londons Straßen erschien, habe es stets riskiert, mit Schlamm beworfen zu werfen. 50 Jahre nach Casanova sucht Marx den Allgemeinbegriff zu solchen Würfen und analogen Gesten, er findet ihn in dem Konzept Klassenkampf.
    Die Schilderungen der aktuellen Situation an der Münchener philosophischen Fakultät durch einen Freund sind nicht widerwärtiger, als Allzumenschliches zu sein pflegt, auch nicht trostloser als sonst. Sie bringen die Einblicke in ein von Rankingkämpfen zerfressenes Milieu auf den neuesten Stand: eine Subkultur, deren Angehörige sich zum Wettbewerb um Nuancen verurteilt glauben. Nummer 53 sieht eine Chance, Nummer 35 zu werden, und Nummer 137 träumt vom Aufstieg zum Rang von Nummer 99.
    Unwillkürlich fällt dir der Herzmanovsky-Orlandosche Hofzwerg im Ruhestand Zephyses Zumpi ein, von dem man munkelte, noch außer Dienst könne er zum Wirklichen GeheimenOberzwerg aufsteigen. Der Zwergenstand war nach Orlando eine »amüsante Quaste am Purpurmantel des Fürstentums«. Aber der Philosophenstand? Seit über 100 Jahren ist er ein Knopf am Schlechtwettermantel des Kleinbürgertums. Sein heutiger Zustand zeugt für den Verfall des Überflüssigen von der freien Laune zur erbitterten Enge.
12. Dezember, München
    Werde beim Frühstück im Hotel vis-à-vis der Kammerspiele auf eine junge charmante Frau aufmerksam, die sich nach einem kurzen undefinierten Blickwechsel als die Tochter von Hermann Scheer vorstellte. Man verabredet sich für ein Gespräch nach der Matinee im Brenner, bei dem auch Scheers Verlegerin Antje Kunstmann anwesend sein wird.
    Die Podiumsdiskussion vor rund 300 Besuchern verläuft nach der stilsicheren Eröffnungsrede von Christiane Grefe und der souverän selbstlosen Anmoderation von Matthias Greffrath ungewöhnlich lebhaft, informativ, mit fast idealtypisch geglückter Mischung ernsthafter und humoristischer Momente.
    Auf der Rückfahrt durch die verschneite Schwäbische Alb gleitet die Landschaft vorbei wie ein alter Schwarzweißfilm, in dem die Kontraste erloschen sind.
    Rilke an die Frau, die seinen Turm zum Stehen brachte: »Aufgerichtet hast du ihn/ahnungslos mit Blick und Wink und Wendung./Plötzlich starrt er von Vollendung/und ich Seliger darf ihn beziehn.«
13. Dezember, Karlsruhe
    »Schafft den Konditionalis ab und ihr werdet Gott getötet haben.« (Nach:

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