Zeilen und Tage
welche Weise die puritanische Mitleidlosigkeit sich mit dem osteuropäischen Fatalismus verband, um die amerikanische Grundstimmung zu erzeugen, wonach jeder für seinen Zustand in der Welt selbst verantwortlich sei.
Finde in einem Aufsatz des Fotografen Rolf Bauerdick, der seit Jahrzehnten die Zigeunerkultur dokumentiert, die Beobachtung: »Die Frauen tranken, um zu ertragen, daß ihre trinkenden Männer sie verprügelten. Die Männer schlugen die Frauen mit der Begründung, sie würden zuviel trinken.«
18. Dezember, Karlsruhe
The Economist zitiert Churchill mit den Sätzen: »Unseren Lebensunterhalt verdienen wir mit dem, was wir bekommen. Ein Leben wird daraus aber erst mit dem, was wir geben.«
Im Internet entdecke ich per Zufall eine Serie von Aufsätzen und Leserkommentaren zu Der kommende Aufstand , die zeigen, welche Resonanz das französische Papierchen auf der deutschen Anarcho-Intensivstation hervorruft. Noch immer hätschelt man dort die haltlose Idee, in der Mitte sei nichts anderes als die große Leere zu Hause, während an den wilden Rändern das Leben feiert.
In der Literaturzeitschrift Glanz und Elend fällt ein genialisches Pamphlet von Jürgen Nielsen-Sikora auf: Kritik der affirmativen Vernunft in 30 Paragraphen , das sich liest wie eine Mixtur aus Walter Serner, Guy Debord, frühem Sloterdijk und Schlingensief. Das Unternehmen endet in Denkfiguren des revolutionären Quietismus – zusammengefaßt in dem Slogan: »Du mußt dein Leben nicht ändern! Bleib so, wie du bist!« Die Hyper-Ironie springt von der Klippe in die schaurige Tiefe, und schau, unter dir ist der Teppich, auf dem du geblieben bist.
Es gibt mehrere Ironien des Lebens, die Kreiskysche, wonach ehemalige Revolutionäre eines Tages im Frack oder Smoking zum Wiener Opernball gehen müssen, die Joschka Fischersche, die will, daß vormalige grüne Minister sich von den schlimmsten Umweltbelastern unter dem Titel eines Konsultanten als Image-Pfleger anwerben lassen, und die allgemeine Ironie der reiferen Jahre, die dafür sorgt, daß man den nächsten Jugendbewegungen über die Schulter blickt.
Nehme mir jetzt doch die vielgepriesenen Tagebücher von Fritz J. Raddatz vor, obschon ich dem Genre nicht über den Weg traue.Mich hat die Literatur der Selbstentblößer , wie Wellershoff diese Form des Schreibhandwerks vorzeiten nannte, nie besonders beeindruckt, weil der Deal »Aufmerksamkeit gegen Indiskretion« für den Leser meist ein verlustbringendes Geschäft ist. Man verachtet den Voyeur in sich, wenn man darauf eingeht. Wird der Autor allzu ehrlich, kommst es dir vor, als hättest du Bestechungsgeld angenommen.
Was Raddatz bietet, ist mittlere Anekdote, Literaturgossip, Alltagspsychologie des »schreibenden, intrigierenden, konvulsivischen Hundepacks«. Kaum Außenwelt, keine Maximen und Reflexionen oberhalb durchschnittlicher Selbst- und Fremdbespiegelung, wenig meditatives Anhalten, so gut wie keinerlei Naturbeobachtung, fast tausend Seiten ohne Baum und Strauch.
Nun kann man sagen, der Autor sei eben ein Beziehungstier, die grüne Natur fällt nicht in sein Ressort. Was ihn gesprächig macht, sind interpersonale Dramen, das war bei Dostojewskij oder Oscar Wilde nicht anders – der letzte Name ist hier wohl angebrachter als der erste, denn wenn Raddatz auf sich selbst zu sprechen kommt, ist Dorian Gray immer in der Nähe.
Fragwürdig der Nachrede-Ton seiner Notizen. Er schreibt über Begegnungen mit bekannten und obskuren Zeitgenossen wie ein Restaurantkritiker, der hohe Küche erwartet und grimmig konstatiert, daß er in eine Imbißbude geraten ist. Gegen den dort servierten Menschen-Saufraß legt er Protest ein, als sei sein Grundrecht auf Baden in Exzellenz verletzt worden. Hierfür exemplarisch ist die Schilderung des »Fests« – Anführungszeichen vom Verfasser – zum 50. Jahrestag der Zeit am 22. Februar 1996 im Hamburger Hotel Atlantic, wo die Veranstalter es wagten, zu billigen Wein zu servieren, »reinen Aldi-Schloßabzug«, urteilt Raddatz, passend zu der übrigen von den Kollegen veranstalteten Niveaulosigkeitsorgie, die sich konsequent in das von ihm gezeichnete Bild der allgemeinen »Kulturverkommenheit« einfügt.
Zu den problematischen Stärken von R. im jetzigen Zustand – die früheren waren anderer Art – gehört eine von Altersrücksichtslosigkeit nicht mehr unterscheidbare Urteilsfreudigkeit im adjektivreichen Modus, gleich ob die sich gegen die »dusselige Gräfin« Dönhoff wendet, gegen den
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