Zeilen und Tage
»schleimigen Lafontaine«, den »pampigen«, »gräßlichen« »Spießer« Helmut Schmidt, den »scheußlichen Karasek«, den »beißwütigen Harich«, den supereitlen Hans Mayer, den »Ich-sage-mit-Lessing«-Angeber Walter Jens, die »giftig-bösartige« Susan Sontag usw. Immerhin, am wenigsten freundlich geht er gegen das eigene Ego vor, bei dem er täglich die Statusprüfung abnimmt, selten mit günstigem Ergebnis.
Zweimal gelingen Raddatz Formulierungen, die in die Nähe von Begriffsbildungen führen, einmal, wenn er sich mit der verbitterten Ehrlichkeit des lange von sich selbst Betrogenen im Mai 1999 einen »Halbschriftsteller« nennt – »Halbschriftsteller also!«, wobei dies »also« wie die conclusio eines jahrzehntelangen Ermittlungsverfahrens klingt; ein andermal, wenn er seinen Existenzmodus als den der »Selbst-Induktion« bezeichnet – womit er sagen will, er habe öfters unerwiesene Begabungen durch Tempo ersetzt und Fähigkeiten – etwa die, Konversationen auf englisch oder französisch zu führen – so lange simuliert, bis sie ihm tatsächlich zuwuchsen.
Was aber ist ein »Halbschriftsteller«? Raddatz hätte sich bei dem von ihm verachteten Roland Barthes belehren lassen können, hätte er auf dessen um 1960 eingeführte Unterscheidung zwischen écrivant und écrivain zurückgegriffen. Mit Hilfe dieser Differenz läßt sich erläutern, warum ein guter écrivant, auch als Halbschriftsteller, lesenswerter sein kann als ein schlechter écrivain.
Für sein früheres, deutlich besseres autobiographisches Buch hatte Raddatz einen passenden, wenngleich matt konventionellen Titel gefunden: Unruhestifter . Diesmal fiel ihm der richtige Titel nicht ein, weswegen er seine Konvolute faute de mieux unter dem fragwürdigen Gattungsnamen Tagebücher. Jahre 1982 – 2001 präsentierte. Dabei hätte der Titel auf der Hand gelegen: »Über meine Verhältnisse«.
19. Dezember, Karlsruhe
Immer häufiger hört man führende Köpfe sagen, »Diskussionen« seien für den Befund der diskutierten Sache schädlich – vor allem wenn es um Währungen und andere wertungssensible Größen geht, die von der Schwarm-Intelligenz oder Schwarm-Dummheit größerer Kollektive getrieben werden. Täglich fordert ein führender Kopf das Ende der Diskussion. Köpft man eine Debatte, bekommt man oft deren zwei, über die Sache selbst und über die Forderung zu schweigen. Herr Ackermann hebt die Augenbrauen, schon steigen die Zinsen für griechische Staatspapiere.
Das hypnopolitische Regime beruht auf der Einsicht: Zu labil sind die Verhältnisse geworden, als daß man sie vor dem Volk erörtern dürfte. Die Ordnungsbewahrer, die Ruhe in die Märkte bringen wollen, weben jetzt unablässig an Sondertextilien – sie verteilen Mäntel des Schweigens kostenlos an die Passanten. Schlüpf hinein und du spürst den Unterschied sofort. Die nicht mehr fraglich gemachte Wirklichkeit atmet auf, sobald die Dethematisierung einsetzt.
Exercises d’admiration: Aiswarya Raj. Monica Bellucci. Martina Gedeck.
Welches ist die bestsubventionierte Institution der Welt? Du kommst nicht darauf: Die deutsche Familie, die mit 100 Milliarden Euro jährlich gefördert wird – nach inklusiveren Rechnungen sogar mit 240 Milliarden.
20. Dezember, Karlsruhe
Diplomaten, höfliche Herren, sich gegenseitig im Dienst des kältesten aller Ungeheuer vermutend. Als Informanten wenig brauchbar, weil sie wie vertrauliche Mitteilungen an ihre Außenministerien melden, was sie in den Zeitungen des Gastlandes lesen.
Das Wort »naheliegend« kann jetzt neurologisch re-interpretiert werden: Sämtliche Nervenzellen sind voneinander maximal vier neuronale Stationen entfernt. »Dichte« bedeutet, daß noch das Entlegenste über abzählbar wenige Zwischenschritte erreichbar ist. Nach derselben Logik ist der Satz »Die Welt ist klein« netz-theoretisch zu rekonstruieren: Mathematiker wollen berechnet haben, zwei beliebig weit voneinander entfernt Lebende auf der Erde könnten über maximal sechs Zwischenschritte einen gemeinsamen Bekannten entdecken.
Beste Welt. In seinen Papieren fand man ein Manuskript: Prolegomena zu einer jeden Päderastik, die als als Pädagogik wird auftreten können .
21. Dezember, Karlsruhe
Daß fast 27 Millionen Schweine in Deutschland »leben« – dazu hat der Bundespräsident noch nicht Stellung genommen. Ebensowenig zu der Tatsache, daß fast 14 Millionen Rinder bei uns »heimisch« sind, solange sie nicht das Schlachtalter erreicht haben,
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