Zeilen und Tage
Boris Vian en verve )
Aus dem Nachruf auf Hermann Scheer: Shakespeares Wort »ripeness is all« und Calderons Devise »dar tiempo al tiempo«, die von François Mitterrand gern zitiert wurde, gehören ihrer Logik nach zusammen. Beide beziehen sich auf eine Welt der agrarischen Zyklen und des human-historischen Werdens. In dieser Sphäre herrscht der Glaube an die wohltätige Allmählichkeit und die begründete Möglichkeit einer Versöhnung mit dem Schicksal. Geschichtliches Werden ist der Raum der zweiten Chancen – in ihm kann morgen gelingen, was bis heute fehlschlug. In ihm ist es am Platz, der Zeit Zeit zu geben.
Ganz anders die physikalische oder systemische Prozeßzeit – hier laufen Uhren ab, hier tritt das Irreversible ohne zweite Chance ein, hier fällt irgendwann das Wort »zu spät«. Von dieser zweiten Zeitform sprechen die Umwelttheoretiker, die vor unumkehrbaren Tendenzen im Metabolismus des Menschen mit den Elementen warnen. Naturpolitik steht unter der Drohung des irreparablen Versäumnisses. Hermann Scheer verstand genug von Physik, Ökologie und Systemik, um zu wissen, daß von jetzt an alle Politik dem Imperativ der Rechtzeitigkeit zu gehorchen hätte. Deswegen rieb er, der aufgeklärte Ungeduldige, sich auf an der Lethargokratie, die seine eigene Partei genausofest im Griff hat wie die übrigen. Kein Menschenrecht ist so ungeklärt wie das auf Regierung durch Einsicht.
Aus Siegfried Unselds kleinem Erinnerungsbuch, das der Verlag als Jahresendgabe versandte: Vom König David Hotel in Jerusalem aus habe er Gershom Scholems Witwe Fania besucht und für sie unterwegs eine teure Orchidee gekauft. Sie quittierte das Geschenk mit der Bemerkung, dieses Zeug wüchse in derGegend wie Mist. Worauf Unseld notierte, sie sei ganz die alte geblieben.
Von dem blinden Seher Teiresias, der über die Fähigkeit verfügte, sich an seine Wiedergeburten als Frau und als Mann zu erinnern, wird erzählt, er habe, bei einem Streit zwischen Hera und Zeus von letzterem als Zeuge befragt, die Auskunft gegeben, die Lust der Frau sei neunmal größer als die des Mannes. Darauf sei er von Hera geblendet worden, weil er das Geheimnis der Frauen verraten hatte. Man darf aus dem Mythos den Schluß ziehen, daß manche griechischen Männer den kritischen Unterschied empirisch bemerkt hatten. Zugleich ist anzunehmen, man habe die kränkende Einsicht verschleiern wollen, indem man sie dem Seher vom Dienst in den Mund legte. Eine solche Erkenntnis könnte also nur über riskante Umwege in die Re-Inkarnation erworben werden.
Man darf sicher sein, daß die Zahl neun in der Auskunft des Teiresias nur symbolischen Charakter hatte, sie wurde gewählt, um die Gefühle der männlichen Partei zu schonen. Die »schoos-blendenden Raketen«, von denen Rilke in diesem Gedicht spricht, werden aus den weiblichen Depots abgefeuert. Ist das Feuerwerk in Gang, kann niemand wissen, bis wohin es geht. Mag sein, daß Richard Wagners letzte schriftliche Notiz vor seinem Tod, wonach die Emanzipation des Weibes nur unter konvulsivischen Zuckungen vor sich gehe, eher physiologisch als geschichtsphilosophisch gemeint war.
14. Dezember, Karlsruhe
In Sven Hedins Tibet-Buch findet sich der Hinweis auf die verachtete Kaste der Leichenzerschneider. Sie zerkleinern die Leichname der Verstorbenen und geben die Teile entweder den heiligen Tempelhunden zu fressen oder legen sie für die Geier aus. Es dürfen keine Reste von Körpern zurückbleiben, weswegen auchdie Knochen zerstampft werden müssen. Nur sehr heilige Mönche erfahren die Ehre der Verbrennung.
In demselben Abschnitt ist von den Lama Rinpoche die Rede, den heiligen Mönchen, die das Gelübde der lebenslangen Einmauerung in einer dunklen Höhle am Fuß einer Felswand geleistet haben – von einem dieser Männer hieß es, er habe in seiner Klausur 40 Jahre ausgeharrt. Wollte ein solcher Delinquent um der Erleuchtung willen auf halber Strecke seinen Vorsatz ändern und ans Licht zurückkehren, fiele er der unerbittlichsten Ächtung zum Opfer.
15. Dezember, Karlsruhe
Wie Elend Kreise bildet. Aus Martin Pollack, Kaiser von Amerika , Wien 2010: »Der Galizianer arbeitet wenig, weil er wenig ißt, er ernährt sich elend, weil er zu wenig arbeitet, und stirbt zu früh, weil er sich elend ernährt.« Auf der Flucht vor der heimischen Aussichtslosigkeit gingen um 1900 Unzählige in die Neue Welt, nur um das galizische Elend gegen das amerikanische zu tauschen. Es wäre interessant herauszufinden, auf
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