Zeilen und Tage
ein Exemplar eines Buchs unter dem Titel La France – est-elle finie? zugesandt worden, kurz zuvor bei Fayard erschienen, verfaßt von Jean-Pierre Chevènement, einem Politiker der französischen Linken mit starkem national-souveränistischem Pathos, von dem ich bisher kaum etwas wahrgenommen hatte. Ich wußte nur, daß er unter Mitterrand Verteidigungsminister war und daß Bernard-Henry Lévy in ihm den Gottseibeiuns in Person sieht – wie seinem Manifest für eine neue französische Linke Ce grand cadavre à la renverse zu entnehmen war. In einer persönlichen Widmung sprach mich der Autor als »Sparringspartner« an – vermutlich weil er sich in seinem Buch an einigen Stellen mit meinen Thesen über die französischen Lebenslügen nach 1944 und meinen Ausführungen über das »Welttheater der Drohungen« auseinandersetzt, zwar überwiegend defensiv, doch höflich.
Frankreich am Ende? Üblicherweise schlage ich Bücher von Politikern mit rhetorischen Fragen im Titel nicht auf, doch dieses hatte ich mir als Urlaubslektüre bereitgelegt, ein wenig ironisch, doch auch aus wirklichem Interesse, dazu einen Band mit Essays des in Deutschland unbekannten britischen Publizisten HenryFairlie, Bite the Hand That Feeds You , den ich bei der letzten New-York-Reise gefunden hatte, sowie Michel Tourniers Der Wind Paraklet , von dem ich mir nicht sicher war, ob ich es nicht schon vor langer Zeit gelesen hatte, dazu einen Band mit den Kriegsreden de Gaulles, herausgegeben von Régis Debray.
Wie, wenn Frankreich am 17. Juni 1940 gestorben wäre? – dem Tag, an dem Pétain den Waffenstillstand anbot? So denkt offenkundig Régis Debray in seinem Vorwort zu den de Gaulle-Reden. Im Dienst welcher Leiche haben sich dann die Politiker und Intellektuellen des Landes seit 1944 abgemüht – de Gaulle selbst allen voran, der demnach ein Leben lang einen nekrophilen Kult betrieben hätte?
Nicht unelegant eröffnet Chevènement seinen Traktat über die französische Misere mit einer Verbeugung vor Mitterrand: »Nur ein Mann, der nicht aus der Linken kam, konnte die Union der Linken herbeiführen.« Die Linke einen – das setzt voraus, ihre internen Varianten nicht allzu ernst zu nehmen. Das gelingt nur dem, der genügend Distanz mitbringt, um als ihr rassembleur von oben zu handeln. Versammeln heißt Gräben zuschütten: Seit den siebziger Jahren weist die französische Linke in ihrer Mehrheit die zerstörerische Alternative von Reform oder Revolution zurück, die vormals die Ideologen entzweite. Etwas früher hatte André Gorz von »revolutionärem Reformismus« gesprochen und damit die kommunistische Dogmatik unterlaufen.
In diesem Klima kann Mitterrand den Plan fassen, die Kommunisten, damals noch die stärkere Kraft auf dem linken Flügel, vor den Karren seiner neuen sozialistischen Partei zu spannen. Hätte man damals schon zugegeben, daß die als »revolutionär« bezeichnete Dynamik aus dem Innovationsstress der kredit- und zinsgetriebenen Unternehmensform kommt und nicht aus dem zornigen Unbehagen überrollter Volksschichten, man hätte eine nahezu realistische Sicht der Dinge erreicht.
Als Mitterrand 1981 einen historischen Sieg erringt, gelangt dieIronie an die Macht. Denn noch während die sozialistische Partei ihren Triumph feiert – in Deutschland verzögert sich das Fest aufgrund des Kohl-Blocks bis zum Wahlsieg Gerhard Schröders 1998 –, zeichnet sich weltweit bereits die aufsteigende Konjunktur des Neoliberalismus ab. Frankreich will die Ausnahme sein – und kann es nicht, weil die Zeit ihre Kinder zwingt, der Regel zu folgen. Mitterrand wahrt die Form, er resigniert im stillen, da er keine Alternative sieht. Er hat eingesehen, daß die Zukunft vom Wettbewerb der Volkswirtschaften diktiert wird – der sogenannte Neoliberalismus ist selbst eine Antwort auf die Tatsachen des erweiterten Wettbewerbs, nicht deren Erfinder. Die neuen Forderungen nach dem Sozialismus in einem Land waren aus dem Stoff gemacht, aus dem die Fabeln sind.
Seither ist Frankreich gespalten in eine Fraktion, die bereit ist, den Geboten der Lage zu genügen, und eine linkskonservative Strömung, die gegen Wind und Wetter den Sonderweg in einen Sozialismus mit französischem Antlitz weitergehen möchte.
Wie könnte Frankreich wieder zu der Leuchtturm-Nation werden, die Chevènement im kollektiven Begehren neu aufrichten will? Wie sollte sich das Land von seiner Konfusion erholen, die aus dem Zerfall seiner Nachkriegsillusionen folgt? Eine
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