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Zeilen und Tage

Zeilen und Tage

Titel: Zeilen und Tage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Sloterdijk
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große Rolle spielen sollte.
    Als Synthese aus plebiszitärem Populismus und unkontrollierter Exekutive stiftet die Herrschaft Napoleons III. ein Muster, an dem sich die meisten autoritären Regressionen des 20. Jahrhunderts wissend oder unwissend orientierten. Diese gingen allenfalls darin einen Schritt weiter, daß sie das Element des Volksentscheids zurückdrängten oder völlig ausschalteten und ganz auf »Machtübernahme« setzten – in der Erwartung, die breite Zustimmung werde sich schon einstellen, wenn man erst einmal im Sattel säße.
    Als Napoleon III. 1852 vom Elysée in die Tuilerien umzog, wußten alle Figuren auf dem politischen Schachbrett, was die Stunde geschlagen hatte. Nun war endgültig die Phantasie an der Macht, die Kulisse hatte der Wirklichkeit den Rang abgelaufen, das kaiserliche Fest wollte nie mehr enden. Der 15. August, der Geburtstag Napoleons I., wurde Nationalfeiertag. Alle Politik mündete in der Aufgabe, das autoritäre Regime bei den Massen beliebt zu machen. Ist die Nation ein tägliches Plebiszit, so ist es die Beliebtheitsdiktatur erst recht. Zug um Zug gibt die Monarchie ihre gravitas preis und wird spekulativ, momenthaft, verführerisch, plebeisch, neureich, hysterisch, lotterieartig, zum Va-banque-Spiel geneigt und suizidal. Unter diesem Aspekt aufgefaßt war das zweite Empire die effektivste Einübung der demokratischen Massengesellschaft, die sich in der Dritten Republik verwirklichte.
25. Dezember, Arrecife
    Beim Blick aus dem Flugzeugfester: die Pyrenäen im Schnee.
    Im September 1862 – nach der Niederlage der romwärts marschierenden Garibaldischen Insurgenten gegen piemontesischeTruppen bei Aspromonte im südlichen Kalabrien – bemerkte Napoleon III., ansonsten lebhafter Befürworter der italienischen Einigung, er glaube nicht daran, daß Italien Sizilien und Neapel jemals integrieren könne. 150 Jahre später hat sich das Gespenst der Einheit noch immer nicht recht materialisiert. Italien bringt seine interne Spukgeschichte in die umfassende Phantomgeschichte der europäischen Einheit mit.
    Nichts gibt mehr Aufschluß über die mentale Verfassung Napoleons III. als seine schriftstellerische Tätigkeit. Er war einer der modernen Autoren-Politiker, die eine zweite Front der Machtrechtfertigung eröffneten. Für seine Lage war die Ambition bezeichnend, eine aus innerem Mitwissen beflügelte Biographie über Caesar zu schreiben – ein Geistergespräch von Caesar zu Caesar über die Jahrtausende hinweg. Zwei Bände davon sind fertiggestellt, ein dritter blieb Fragment. Der Begriff »Caesarismus« war kein von außen herangetragener Titel, sondern gründete im Selbstverständnis eines modernen Machthabers.
    Daß man in Frankreich die sozialcaesaristischen Elemente der napoleonischen Politik zumindest teilweise ernst nahm, erhellt aus dem Umstand, wonach Pariser Arbeiterorganisationen zum Begräbnis des vormaligen Kaisers im englischen Exil am 15. Januar 1873 eine Delegation entsandten.
    Die meisten Franzosen haben beschlossen, Napoleon III. aus ihrem Geschichtsbild zu eliminieren, als schämten sie sich dafür, ein gut Teil ihrer Modernisierung einem Emporkömmling zweiten Grades zu verdanken, der sie nach einer Phase verführerischer Erfolge in das Debakel von Sedan geführt hatte. Die Pariser wollen nicht wissen, daß sie eine von Napoléon le Petit geschaffene Stadt bewohnen. Wenn sie bis heute den Baron Haussmann, den rücksichtslosen Urbanisten, rühmen, der die großen Schneisen anlegte, so um nicht daran denken zu müssen, daß der resolute Präfekt Haussmann nichts anderes war als die ausführende Hand des Empereurs. Walter Benjamins »Hauptstadt des 19. Jahrhunderts« ist nur zum Schein die Stadt Baudelaires, in Wahrheit ist sie die Stadt Napoleons III.
26. Dezember, Uga
    Kargheit ist der erste Eindruck, den die lanzarotische Landschaft hervorruft. Bergflanken von einer unmenschlichen Schroffheit säumen den Weg in Richtung Yaiza im Süden der Insel. Türkisfarben und von kalter Ausstrahlung das Meer, die Erde rabenschwarz, wo sie kultiviert ist, schmutzig graubraun, wo sie sich selbst überlassen wird. Die menschliche Präsenz macht sich bemerkbar durch grelle weiße Kuben inmitten der Ödnis. Ein paar Dutzend solcher Kuben bilden ein Dorf – ein weißes Manifest gegen eine Welt aus Lavageröll und Vulkankegeln. Schon Gräser und Büsche wirken wie jüngst gelandete Einwanderer, die sich mit Mühe an der Erde festkrallen.
    Eine Woche vor Weihnachten war mir

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