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Zeilen und Tage

Zeilen und Tage

Titel: Zeilen und Tage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Sloterdijk
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sandliebende Pflanzen.
7. Januar, Karlsruhe
    »Über den Grund des Mißvergnügens an übergewichtigen Gegenständen.«
    Kleine Philosophie für Flughäfen: Nirgendwo ist der Stand der nachrevolutionären Auseinandersetzung zwischen Herr und Knecht so gut ablesbar wie am Flugplatz, wenn man sich auf dem Weg zum Check-In-Schalter gemacht hat. Keiner von all den Reisenden hat noch einen Diener um sich, der beim Transport des Gepäcks behilflich wäre. Für seine Last ist jeder Mensch unterwegs selbst verantwortlich geworden, auch die Damen müssen als Gepäckträgerinnen in eigener Sache tätig sein.
    Die Flughafenwahrheiten sprechen für sich. Wo früher Herr und Knecht einander gegenüberstanden, der eine entlastet, mit freien Händen, kontemplativ bis zur Unbrauchbarkeit, der andere abgemüht, dienstfertig, immer eine Hand am Griff, sieht man in der Abflughalle nur Herrenknechte und Knechtsherren in einer Person, autonome Diener ihrer selbst, den Rollenkoffer hinter sich her ziehend. Wenn behauptet wurde, die Geschichte sei im wesentlichen zu Ende, so kann man am Flughafen sich von der Richtigkeit der These überzeugen. Alle Menschen haben das Recht erlangt, ihr Gepäck selbst zu bewegen, der Rollenkoffer hat uns den Ausgang aus der Geschichte gezeigt. Das posthistorische Geräusch ist das leise Singen der Rollen auf dem Marmorboden in der Halle.
    Das großvenezianische Experiment geht stetig weiter. Die europäischen Visionenmacher haben nicht begriffen, daß sie nur noch über den Neigungswinkel des Abstiegs mitentscheiden.
    Ein neuer Kontinent entdeckt: Illiquidien.
    Beste Welt. Tourniers Buch schließt mit einer Meditation über Inseln, die Orte der ewigen Jugend, und Gärten, die Oasen der Reife. Der spinozistische Gärtner sieht das Absolute im umhegten Raum. Ein von Spinoza inspirierter Architekt würde es in Zimmern erkennen, in Wohnungen, auf blickfreigebenden Terrassen.
10. Januar, Karlsruhe
    Von Maren ein Gruß aus Pondicherry und eine Kopie ihres Briefs an Bruno, in dem sie die Gründung des Klosters als ein fait accompli darstellt.
    »Er hat mir einige Fische entwendet, sie aber in seiner eigenen Sauce ertränkt.« Hegel über Victor Cousin – in bezug auf dessen Pariser Vorlesungen über deutsche Philosophie 1828.
    Um 1840 erregte der von Cousin provozierte Eklektizismus-Streit die Gemüter weltweit, bis in die Karibik – was für die faktische Globalisierung der intellektuellen Szene schon zu diesem Zeitpunkt spricht. Die These des Eklektizismus lautete, die Zeit der wesentlichen Systembildungen sei vorüber, kein System für sich könne vollkommen sein, was bleibt, sind Archetypen der Weltanschauung, nehmt also von allem das Beste, verbindet es, und nutzt die Freiheit der Epigonen, um über die Einseitigkeitder Großen hinauszukommen! Da haben wir sie anno 1840 fertig vor uns, die »Werkzeugkasten-Theorie« des Denkens, mit der sich Deleuze und Guattari nach 1968 noch einmal Marktanteile sicherten.
    Über Robespierre und St. Just bemerkt Maurice Blanchot, sie hätten nicht »wie lebende Menschen unter lebenden Menschen« existiert, sondern als »agierende Abstraktionen«, ausgestattet mit der »Freiheit eines abgeschnittenen Kopfes«. Diese Freiheit ist die des Selbstmörders auf der letzten Strecke. In ihrem Anspruch auf Schon-wie-tot-Sein gleichen die Revolutionäre, sagt Blanchot, den wirklichen Schriftstellern, die zu nichts anderem berufen sind als dazu, Negationen der Wirklichkeit zu schaffen.
11. Januar, Karlsruhe
    Beruf: Ungeschehenmacher.
    Das Wort »Gesellschaft« ist für den Journalisten ein Hinweis auf Polythematik, für den Philosophen auf Polykontexturaltät, für den Künstler auf Polymorphie, für den Politiker auf Polypolemik.
    Vom SWR zugesendet, eine DVD mit dem Vortrag von den letzten Hörspieltagen in Karlsruhe: Das soziale Band und die Audiophonie .
    Kant und Rawls an den Grenzen Israels. Rechtsphilosophen Kantscher Tradition arbeiten gern mit der beruhigenden Unterstellung, daß die Gründungsverbrechen, die zur Bildung einer rechtsstaatlich verfaßten Nation führten, in der Vergangenheit versunken seien. Sie nehmen hierdurch an, die Resultate der einstigen Kämpfe seien irgendwann nicht mehr strittig und würdenvon den Nachkommenden in aufgeklärter Resignation hingenommen – ob es die Oder-Neisse-Linie ist oder der dänische Verlust von Holstein und Schleswig oder die blutige Eingliederung Sachsens ins karolingische Reich. Mit der Anerkennung des Resultatcharakters

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