Zeilen und Tage
inzwischen Umm-al-Qura-Moschee heißt, hinter einer dreifachen Tür unter Verschluß gehalten, deren Schlüssel an getrennten Orten gehütet werden. Für die Frommen ist evident, eine Kopie des Korans bliebe selbst dann unantastbar, wenn sie mit dem Blut des Teufels abgeschrieben worden wäre.
Genau diese Geschichte muß man erzählen, wenn die beliebteste Legende des heutigen westlichen Feuilletons, die von der neuen Religiosität, wieder einmal rezitiert wird. Das Neue an der vorgeblich neuen Religiosität ist die ständige Ausweitung des usurpatorischen Faktors. Aber wirklich neu ist auch dieses Phänomen nicht, denn die Neuzeit beruht auf dem Schauspiel, wie Herkunftslose die Überlieferung unterwandern, als wäre sie herrenloses Gut, das dem gehört, der als erster aufsammelt und gegen die Mitwelt wendet.
Olaf Henkels freischärlerischer Vorschlag, den jetzigen Euro aufzugeben und an seiner Stelle einen Nord-Euro – für die ökonomisch starken Länder – und einen Süd-Euro – für die übrigen – einzuführen, wurde soeben von Altbundeskanzler Helmut Schmidt mit einer kühlen Handbewegung abserviert. Seine Ablehnung stützt sich auf das Argument, das Geld des Nordens würde unweigerlich in eine Überbewertungsspirale geraten, die der exportabhängigen deutschen Wirtschaft großen Schaden zufügen müßte, während das Südgeld in einem fatalen Unterbewertungssog unterginge. Da Helmut Schmidt die Idee der Euro-Bonds unterstützt, muß man annehmen, daß er an der Illusion einer dauerhaften Koexistenz völlig ungleicher Volkswirtschaften unter dem Dach einer gemeinsamen Währung festhält. Ob er in dieser Mesalliance ungleicher Systeme die Chance erkennt, den Euro für den deutschen Export hinreichend zu schwächen? Selbst für den klugen Senior ist Politik nicht länger die Kunst des Möglichen, vielmehr ein Ausfluß höheren Wunschdenkens. Als politisch motiviertes Projekt bleibt der Euro, was er von Anfang an war, ein Werkzeug des magischen Realismus in einem monetären Dialekt.
Den Theoretiker versetzen diese Beobachtungen in eine prekäre Lage: Man bräuchte eine Theorie, die es erlaubte, unvermeidliche Illusionen von vermeidlichen zu trennen, doch eine solche gibt es nicht. Alles spricht dafür, daß zu der klassischen Devise, wonach die Menge betrogen werden will, ein unklassischer Anhang hinzugefügt werden muß: Die politischen Eliten wollen sich selbst betrügen, um den Anforderungen der Führung durch den Nebel zu genügen.
Napoleon: »Es ist die Einbildung, von der die Welt bewegt wird.«
Vorweihnachtliche Revision eines Geschichtsbilds: Das Magazin Le Point rückt unversehens mit der gemäßigt ikonoklastischen Wahrheit heraus, Frankreich sei eben nicht nur die Tochter der Ereignisse von 1789, sondern verdanke auch viel dem Genie der Könige, die das Land jahrhundertelang als Garanten des bien commun regiert hatten – ständig im Kampf mit den multiplen Egoismen der Stände, der Körperschaften, der Metiers und des höfischen Milieus. In diesem Kontext fällt ein Satz, bei dem esaufzuhorchen gilt: Auch die Fiskalität, wie wir sie bis heute kennen, kommt von den Königen her!
Die Pointe dieser Reminiszenz ist geeignet, unsere bevorzugten Klischees über die Geschichte Frankreichs zu zerstören. Das Land war vom Tod Ludwigs XIV. an in die Hände einer administrativ-aristokratischen Reaktion geraten, die der monarchischen Souveränität faktisch das Wasser abgrub. Die Auswüchse bei der administrativen Paralyse der Königsfunktion, einschließlich des provozierenden Ämterhandels, seien es letztlich gewesen, die die Reaktion des Dritten Standes auf den Plan riefen – als eine bürgerliche Reaktion gegen die Reaktion des ineffizienten, ungerechten und überschuldeten Verwaltungsstaats. Ironischerweise wäre die Französische Revolution eine Restauration gewesen – sie stellte die Souveränität der Nation, wie sie bis Louis XIV. im König verkörpert war, gegen den administrativen Pluralismus und seine zentrifugalen Tendenzen wieder her. Von dem General-Finanzkontrolleur John Law wird die Bemerkung überliefert: »Dieses Königreich Frankreich wird von dreißig Intendanten regiert … das sind nun dreißig in die Provinzen abgeordnete Monarchen, von denen das Wohl und Wehe dieser Provinzen, ihr Überfluß und ihre Armut abhängen.« Die Äußerung ist vermutlich auf das Jahr 1720 zu datieren. Um 1780 waren die angedeuteten Verhältnisse dieselben geblieben, nur chaotischer und
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