Zeilen und Tage
unerträglicher.
Napoleon selbst wies das unter Aufklärern beliebte Absolutismus-Märchen zurück und bezeichnete die Zustände des Landes unter den Bourbonen als pure Anarchie. Er sah seine Mission in der Formung einer regierbaren Nation mit einem starken Souveränitätspol. Tant mieux, wenn das Volk für dieses Vorhaben durch die Parolen von Freiheit und Gleichheit zu gewinnen war.
Seit Napoleons imperialer Episode ist die französische Geschichte ein ständiges Ringen um das souveränistische Phantasma, das sich in vier monarchistischen Experimenten (zwei Kaiserreichen, einem legitimistischen, einem orleanistischen Königtum), zwei Militärdiktaturen (Napoleon, Pétain) und fünf Republiken (1792-1799, 1848-1851, 1871-1940, 1946-1958, 1958 bisjetzt) materialisierte. Den aktuellen Stand des Kampfs zwischen den retrograden Träumen und den absinkenden Verhältnissen repräsentiert die von de Gaulle hinterlassene Fünfte Republik. Vorstudien zu einer sechsten Republik liegen in verschiedenen Schubladen.
24. Dezember, Vorchdorf
Ebenmäßiger Spießermorgen unter dem Dach der Großeltern. Verbringe die Stunden rentnerisch zeitunglesend, wobei ich die FAZ und die SZ , wie Helmut Schmidt es ausdrückt, »am S-tück« rezipiere.
Auf den ersten Blick scheint die in Frankreich seit 1982 erhobene Vermögenssteuer in Höhe von jährlich 1,8% auf größere Patrimonien – ab 16 Millionen € Vermögen – nicht exorbitant zu sein. Rechnet man die Leistungen des Impôt de Solidarité sur la Fortune auf 50 Jahre hoch, kommen sie einer fast 100prozentigen Enteignung gleich. Ähnlich ist die Wirkung der französischen Erbschaftssteuern, die bei einem Ansatz von 35-40% auf Vermögen über 500000 € zu einer vollständigen Konfiskation im Lauf von kaum drei Generationen führen. Nimmt man die Wirkung der Inflation hinzu, die von Fachleuten als eine Form der stillen Steuer gedeutet wird, so bewirkt auch diese bei mäßigen Werten um 2 bis 3% pro Jahr im Lauf von 40 Jahren eine fast vollständige Entwertung der Bürgervermögen zum Vorteil des Fiskus.
Es gehört zu den desinformierenden Wirkungen der üblichen Sprachspiele über das »Soziale«, zu suggerieren, die heutige »Gesellschaft« bewege sich auf das äußerste Stadium des Beutekapitalismus zu, während wir unserem faktischen modus vivendi zufolge bei durchschnittlichen Staatsquoten um 50% vom BIP in fast allen Industrieländern längst in einem Semi-Sozialismusbzw. einem socialisme au ralenti angelagt sind, der seinen Namen nicht zu nennen wagt.
Gern hat man in Paris das Subjekt dezentriert, wenn schon die metropolitane Macht nicht zu dezentralisieren war. Während diese intellektuelle Geste für Frankreich zumindest symbolisch sinnvoll schien, ist es erstaunlich, wie sich ein solches Theorem in Länder und Szenen exportieren ließ, in denen es analoge Zentrismen nie gegeben hatte. Dort half es mit, den Habitus des Improvisierens in anarchischen Strukturen zu verfestigen – als hätten Intellektuelle ein Interesse an Denkmustern, die das innere Gegenstück zu einem failed state darstellen.
Beste Welt. In der Tarockei regieren vier Könige, für darbende Royalisten in der Alpenrepublik ein tröstlicher Hinweis aus der Feder Herzmanovsky-Orlandos. Siehe von demselben Verfasser: »Exzellenzen ausstopfen – ein Unfug.«
Das Abenteuer von Charles-Louis Napoléon, der sich ab 1852 Napoleon III. nannte, ist nicht mehr und nicht weniger als ein Kapitel in der gewundenen Geschichte des französischen Souveränismus. Zudem war der zweite französische Kaiser eine nicht ganz unbeträchtliche Instanz in der Entwicklung der sozialen Frage seines Landes. Es war kein Zufall, daß Louis Blanc, der utopische Sozialist und spätere Gründer der französischen Sozialdemokratie, den jungen Napoleon im Gefängnis besuchte und mit ihm vier Tage im Gespräch verbrachte – Louis Napoléon war nach seinem gescheiterten Putsch von Boulogne 1840 zu lebenslanger Haft auf der Festung vom Ham verurteilt worden, er entfloh von dort als Maurer verkleidet ins Ausland.
Napoleon III. zog Aufmerksamkeit auf sich als Urheber eines Übergangsexperiments, das Elemente der Demokratie mit solchen der Monarchie in einem »plebszitären Kaisertum« verbinden wollte. Auf ihn ließ sich das von seinem Zeitgenossen Auguste Romieu 1850 geprägte Wort »Caesarismus« erstmalsanwenden – ein Ausdruck, der bald von Jakob Burckhardt und Mommsen übernommen wurde und später in Spenglers Zeitdiagnose eine
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