Zeilen und Tage
darin, nicht vorhanden zu sein.
Katholischer Snobismus: Ronald Knox, ein Konvertit, der sich als Bischof, Bibelübersetzer und Satiriker einen Namen machte, antwortete auf die Frage, warum er nie den Vatikan besucht habe: »I see no reason why a first-class passenger should go down to the engine room.« (Fairlie, p. 77)
31. Dezember, Yaiza
Bei der Fahrt durch die rauhen Lava-Wüsten im Süden der Insel stellt sich eine Denkaufgabe: den Standpunkt finden, von dem aus diese zerklüfteten Steindramen wie eine glatte Oberfläche aussehen.
1. Januar 2011, Yaiza
Von Bruno, der die Fahnen zu Tu dois changer ta vie vor sich hat, kommt eine lapidare Nachricht: Er möchte in den Orden eintreten, den er mit dem Buch gestiftet sieht.
Obschon Fairlie nichts weiß von Kritischer Theorie, spiegelt sein Wort »Establishment«, das er historisch bis zu Emerson zurückverfolgt, den diskret dunkelgnostisch gefärbten Begriff »das Bestehende« wider, mit dem Adorno, Marcuse und andere nach dem Zweiten Weltkrieg auf den Wirklichkeitsblock deuteten. Doch gleich, ob man »das Bestehende« sagt oder »Establishment«, im durchschnittlichen Gebrauch indizieren die Ausdrücke den Übergang der Kritik in Oppositionskonformismus. Fairlie selbst erklärt sich 1968 in einem Artikel im New Yorker den Erfolg des Worts mit dem infantilen Hang zu Verschwörungstheorien.
Interesselose Negativität führt in den Snobismus.
3. Januar, Uga
Der Traum, das Exil, die Gefangenschaft, Modi der Entwirklichung. Es ist kein Kompliment, wenn man von einem Urlaub sagt, er sei traumhaft gewesen.
Beruf: Kolaphologe
Von Griechisch: kolaphos, die Ohrfeige. Bedenke: Sollte der erste gute Mensch auch die andere Wange hingehalten haben, nachdem die rechte Wange schon geschlagen wurde, wie in Matthäus 5, 39 angenommen, so müßte der Angreifer Linkshänder gewesen sein. Jesus bereitet den denkwürdigen Eintritt der Linken in die Geschichte vor.
In der schönen Literatur dient die Ohrfeige als Muster einer Ursache, die von der Wirkung übertroffen wird – etwa die Ohrfeige, durch die sich Nils Holgersson in einen Zwerg verwandelt, nicht größer als ein Handrücken, oder die Ohrfeige der im Bad belauschten nackten Mutter, die beim Erzähler der Mitternachtskinder das telepathische System im Kopf freischaltet. Da der Schlag ins Gesicht eine Geste ist, die in so gut wie allen Beleidigungszivilisationen vorkommt, wäre die Existenz eines entsprechenden Worts bzw. eines ganzen Wortfelds in allen Sprachen zu postulieren. Im alten Rom soll es den Brauch gegeben haben, Sklaven mit einer letzten Ohrfeige in die Freiheit zu entlassen.
Andante allegro.
Michel Tournier schildert die verheerende Enttäuschung, die sich der philosophisch passionierten jungen Leute von Paris bemächtigte, als sie das didaktische Geschwafel anhören mußten, dasSartre in seinem legendären Vortrag vom 28. Oktober 1945 im Club Maintenant unter dem Titel L’existentialisme est un humanisme ausbreitete. Man hatte zwei Jahre zuvor L’être et le néant verschlungen, ein meteorisches Werk, nach dessen Lektüre man überzeugt war, ein Held des Denkens lebe unter uns. Man war gekommen, um zu verehren, und nun, von einem Augenblick zum anderen, war man am Boden zerstört, entzaubert, wehrlos der heftigsten Verachtung des vormaligen Heros ausgeliefert. Man fand die Lösung des Rätsels in dem Roman Der Ekel , in dem der Autor sich über die Figur des Autodidakten unbarmherzig mokiert hatte. Die Kriegszeit hatte den Spott in Affirmation verkehrt. Sartre selbst war ein Autodidakt geworden!
Die Anekdote erinnert an einen der Gründe, warum man wieder jung sein wollen sollte. Man wäre wieder strenger, als das Leben erlaubt. A la recherche du mépris perdu.
4. Januar, Uga
Vom Slogan der französischen Linken der siebziger Jahre: Changer la vie! zum absoluten Imperativ: Du mußt dein Leben ändern! Wenn es gelänge, die Ideenstrecke dazwischen en détail auszuschreiben …
5. Januar, Uga
Ich kann Chef. Der Leadership-Diskurs beruht auf der Suggestion, daß man Charisma lernen könne wie Basic English.
Michel Tournier, Essayist einer »äolischen Theologie«, die auf die Rematerialisierung des Pneumas zielt.
6. Januar, Uga
Für den Zusatzwortschatz: Eine Informationstafel der Universität von Gran Canaria an einem Rastplatz in der Nähe von Caleta de Famara klärt den Besucher über halophile und psammophile Organismen auf, die für die Flora der Region charakteristisch sind – salzliebende und
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