Zeilen und Tage
Wiedererhebung Frankreichs ist von heute aus gesehen ebenso unwahrscheinlich wie die libération aus der Sicht von 1940. Wer soll diesmal das Wunder bewirken und für die müde Nation den Kopf hinhalten? Die Deutschen, indem sie Frankreich freiwillig den Vortritt lassen? Die Russen, indem sie sich mit den Franzosen zusammentun, um das deutsche Übergewicht zu neutralisieren? Ganz unverhohlen spekuliert Chevènement mit beiden Optionen, ja, ungeniert gibt er sich Phantasien über die Einbeziehung Rußlands in die Europäische Gemeinschaft hin.
Es ist unmöglich, dieses Buch zu lesen, ohne die Gegenwart eines dem Autor unerträglichen Gedankens zu spüren. In den Pausen seines hypnotischen Plädoyers flüstert ein Dämon ihm ins Ohr: La France est une passion inutile.
27. Dezember, Puerto del Carmen
Bilder aus der besten Welt: An einer der Flanierstraßen der vom Tourismus entstellten kleinen Hafenstadt prangt weithin sichtbar das Schild »Deutsche Klinik« – hier können sich Urlauber restaurieren lassen, auch kosmetische Operationen sind exterritorial durchführbar. Überwiegend ältere Leute – knapp diesseits und jenseits des Renteneintrittsalters – promenieren an den Läden entlang, die Touristenware anbieten, viele im Unterhemd und in Badeschuhen, die Hälfte von ihnen übergewichtig, in überdehnte Badehosen oder fassungslose Bikinis eingezwängt. Eine finale Mühl-Kommune, deren Angehörige sich an dem nach 1968 erkämpften Recht auf Häßlichkeit erfreuen.
Archaisch erscheinen im Rückblick die anti-mammonistischen Töne, die François Mitterrand in seiner großen Rede auf dem Parteitag von Epinay 1971 anschlug, als die sozialistische Partei sich unter einem neuen Programm zur Machteroberung aufstellte. Er plädierte damals mit dem Pathos des Neubekehrten für den radikalen Bruch mit allen Aspekten der Geldmacht, ja, er predigte wie ein neuer Savonarola gegen »das Geld, das korrumpiert, das Geld, das kauft, das Geld, das zermalmt, das Geld, das tötet, das Geld, das ruiniert, das Geld, das die Fäulnis bis in das Gewissen der Menschen trägt«. Man spürt in den rhetorischen Appositionen die Selbsterregung, mit welcher der histrionische Politiker sich aufpumpt, um den Saal mitzureißen.
28. Dezember, Uga
Mit dem Fahrrad über die lanzarotische Weinstraße bis Teguise, der alten Hauptstadt der Insel, vorbei an Manriques Denkmal des Campesino, das wie ein kubistisch dekonstruierter weißerGockel in einem Boot hoch über die Landschaft blickt. Man bemerkt die intensive Sorge, mit der hier jeder einzelne Weinstock umhegt wird. Durch halbrunde Natursteinmauern und tiefe Gruben werden die Pflanzen vor dem Nordostwind geschützt, der jeden Vormittag zu wehen beginnt. Manche dieser Kuhlen sind fast zwei Meter tief, jeder Weinstock eine Singularität. So müßte Weinbau auf dem Mond aussehen.
30. Dezember, Yaiza
Henry Fairlie, 1924-1990, der Urheber des Ausdrucks »Establishment«, datiert dessen erstes Auftauchen auf den 23. September 1955. An diesem Tag erschien in The Spectator ein Essay aus seiner Feder, der sich mit dem Überlaufen zweier britischer Politiker ins Lager der Sowjets befaßte. Der Ausdruck war damals ohne kritische Absicht gewählt und sollte Englands ekklesiale und politische Elite bezeichnen – im Gegensatz zum unsoliden Rest der Welt. In einem rückblickenden Kommentar aus dem Jahr 1968 verteidigt Fairley die konservative Lesart des Worts, da ja die Existenz eines rechtverstandenen Establishments einen wohltätigen Ballast bilde, der das Staatsschiff gegen die Macht »schlimmerer Einflüsse« stabilisiere.
Die Rezeption des Begriffs in den Sprachspielen der Linken lief den Intentionen des Autors auf ganzer Linie zuwider. Bekanntlich neigte der Zeitgeist der sechziger Jahre dazu, allen Verhältnissen den Kredit zu entziehen, die vorgaben, das aus guten Gründen Bestehende zu sein. Hatte Mephisto behauptet, alles, was entsteht, ist wert, daß es zugrunde geht, dachte man jetzt, wenn etwas besteht, ist es schon darum wert, daß es verschwindet. Von einem strengen Zeitgenossen wurde Fairlie »the first Angry Young Man« genannt – er verstand sofort, dies war nicht als Kompliment gemeint.
Bemerkenswert ist, daß Fairlies konservative Gesinnungsgenossen unisono verlauten ließen, ein soziales Objekt namensEstablishment sei inexistent – ein instinktsicherer Schutzreflex der machthabenden Netzwerke, die auf der Stelle erkannten, die einzig sichere Methode, Angriffen auszuweichen, bestehe
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