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Zeilen und Tage

Zeilen und Tage

Titel: Zeilen und Tage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Sloterdijk
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früherer Gewaltakte ist ein Staatsvolk über den Krieg hinaus, und der Einrichtung des Rechtsstaats über einem vormaligen Konfliktgelände scheint weiter nichts im Weg zu stehen. Von Kants freiwilligem Nichtmehrstrittignehmen der Gründungsverbrechen weicht Rawls nur darin ab, daß er im Rechtsstaat weiterwirkende Unrechtslasten aus früheren Konflikten mit Hilfe des Veil-of-Ignorance-Spiels nachträglich kompensieren möchte.
    Der Fall Israels macht deutlich, in welchem Maß Kants und Rawls’ Ideen im akademischen Quietismus zu Hause sind. Beide Autoren wären angesichts des israelischen Dilemmas zur Ratlosigkeit verurteilt, weil es ihre wichtigste Prämisse außer Kraft setzt: Der Staat Israel bietet bis auf weiteres das Bild einer politischen Improvisation, die aus dem Stadium der Gründungsverbrechen nicht herauskommt. Die von den Gründern eingeleiteten und von den Erben fortgesetzten Gewalttaten, von der Ermordung britischer Zivilisten beim Anschlag auf das König David Hotel 1946 und der Vertreibung der Palästinenser aus ihren Gebieten 1948 bis zur fortgehenden landräuberischen Siedlungspolitik und der kürzlich erfolgten Tötung türkischer Gaza-Hilfe-Aktivisten, können nicht in die Vergangenheit versinken, weil immer erneut aufbrechende Konflikte ihre historische Einklammerung nicht erlauben. Die äußere Lage, die durch mentale Fixierungen verschlimmert wird, macht die Bewohner des Landes geneigt, Akte der Gründungsgewalt vor den Augen der Weltöffentlichkeit teils verlegen, teils trotzig, gelegentlich sogar provokativ, zu wiederholen – eine Situation, wie geschaffen, um israelkritische Regungen zu animieren.
    Erreicht die Kritik am israelischen Verhalten eine gewisse Schärfe, sprechen die Apologeten aufgrund einer unfehlbaren Automatik des A-Wort aus. Binnen einer Sekunde versteinert dieDebatte. Den mitten im Satz erstarrten Kritikern bleiben weitere Erklärungen im Halse stecken. Zu spät haben sie es begriffen: Der Glaube an die Redefreiheit ist der Anfang des Mundtodes.
12. Januar, Karlsruhe
    Wußtest du: »Bockprämie«, so nannte Arno Schmidt das Kindergeld.
    Wußtest du: Der Konsum von Antidepressiva ist unter den europäischen Ländern in Portugal mit 16% am höchsten, gefolgt von Litauen mit 11% und Frankreich mit 9% der Bevölkerung. Die Psychopolitik beginnt in der Apotheke.
    Wußtest du: 116 Millionen Europäer reisen jährlich von Norden ans Mittelmeer. 280 Millionen Chinesen fahren zum Neujahrsfest zu ihren Familien aufs Land.
    Gehirn, freu dich, heute darfst du ein Foto sehen von der Parade der indischen Kamel-Kavallerie!
    Abends in der Weinstube des Erbprinzen von Ettlingen. Was der Wagenpark im Hof des Hotels verrät: Es hat nie eine Krise gegeben.
14. Januar, Karlsruhe Berlin
    Mitterrand, der Sozialist, der nicht wußte, was ein Metro-Ticket kostet, war der letzte Bourbone, den eine Laune des Schicksals ins Élysée versetzte; Chirac regierte orléanistisch, Sarkozy bonapartistisch. Die Fünfte Republik ist immer noch ein Tanzboden für die Gespenster der drei Monarchismen.
    Wenn die indische Fluglinie IndiGo dieser Tage bei Airbus 180 Maschinen bestellt, horcht die Wirtschaftspresse auf: Es handelt sich um die größte Transaktion dieser Art in der Geschichte der Luftfahrtindustrie. Die Feuilletons denken nicht daran, solche Vorgänge zur Kenntnis zu nehmen und sie als Schritte zur Marginalisierung Europas zu begreifen. Auch auf touristischem Gebiet wird die Musik bald anderswo spielen. Die indischen Flugzeuge werden nicht nur in die alte Schweiz fliegen, wo man die aus Bollywoodfilmen berühmten Berge sehen möchte, Europa im ganzen wird zu einer Überschweiz, die reiselustige indische Mittelschicht wird im 21. Jahrhundert den Nationalpark Alte Welt mit ihrer Anwesenheit erfreuen.
    Vom Besuch Nixons in China 1972 wird die Anekdote erzählt, daß der amerikanische Präsident bei einem Rundgang durch die Verbotene Stadt dem chinesischen Ministerpräsidenten Tschou En Lai die Frage stellte, wie er die Bedeutung der Französischen Revolution für die westliche Kultur beurteile. Darauf soll Tschou einen Augenblick gezögert und schließlich geantwortet haben: »Es ist noch zu früh, dazu etwas zu sagen.« Too early to tell. In anderen Varianten der Anekdote ist Kissinger der Gesprächspartner.
    Wenn der General Napoléon am 21. Juli 1798 seinen Soldaten vor der Schlacht bei den Pyramiden zurief, »Songez que du haut de ces monuments, quarante siècles vous contemplent!«, spricht er

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