Zeilen und Tage
die Sprache eines Abenteurers, der die Sensation der langen Dauer in den Dienst der Truppenmoral stellen möchte. Tschou En Lai hingegen, wenn er sagt, es sei zu früh, die geschichtliche Bedeutung der Französischen Revolution zu kommentieren, redet wie ein Mann, der sicher ist, von einer mehrtausendjährigen Staatskultur getragen zu werden.
15. Januar, Berlin
Auf der stark besuchten Konferenz über Möglichkeiten, dem Zwang zu weiterem Wachstum zu entgehen – organisiert von Meinhard Miegels »Denkwerk Zukunft« im »Umweltforum Auferstehungskirche GmbH«, getragen von einem privaten Sponsor –, erreicht die Debatte einen stillen Höhepunkt mit der Bemerkung des aus Thailand stammenden buddhistischen Lehrers Sulak Sivaraksa, vormals Dozent an der University of California, Berkeley, und Träger des alternativen Nobelpreises 1995, wonach der Buddhismus ein Problem damit habe, die Natur der Gewalt zu begreifen. Diese Aussage gehört zum intellektuellen Apparat seines Versuchs, einen »engagierten Buddhismus« zu praktizieren. Verblüffend ist das humoristische Mienenspiel des Manns, der auf die siebzig zugehen dürfte. Selten sieht man ein Gesicht, bei dem das Hin und Her zwischen Lächeln und Nicht-Lächeln so sehr an die Wirkung eines Schalters zwischen An und Aus erinnert.
16. Januar, Berlin Karlsruhe
Noch einmal Raddatz. Eigentlich sind seine Tagebücher ein Schelmenroman, dessen Held einen homme de lettres auf der Suche nach dem noblen Schriftstellertitel verkörpert. Es ist im ürigen nicht richtig, daß Bäume und Sträucher in seinen Aufzeichnungen völlig fehlten. Da und dort taucht spät noch etwas Blühendes auf, zu dessen näheren Kennzeichnung dem Verfasser zumeist ein »herrlich« ausreicht.
17. Januar, Karlsruhe
Gestern bei Aufnahmen im Berliner Grand Hyatt zu dem geplanten Portrait auf arte, als Felix Schmidt mich nach dem Warum und Wie meiner literarischen Aktivitäten fragt, gebe ich erstmals so etwas wie einen persönlichen Mythos preis. Ich lebe unter dem Auge eines großen Anderen, den ich mit nichts von allem, was ich tue, überzeugen kann.
Reserviere zwei Tage für die Beschäftigung mit Stephan Trübys Dissertation Geschichte des Korridors , einer Studie, die von dekonstruktivistischer Sensibilität geprägt ist, da sie auch auf dem architektonischen Feld das »Beiwerk« als Schlüssel zur Substanz auffaßt. Der Korridor wird hier zum Helden einer Phänomenologie des »mißliebigen Raums«. Niemand hat den Korridor erfunden – er ist der Architektur gleichsam unterlaufen.
Der Korridor ist der Raum, der andere Räume erschließt. Kein Raum ohne Vorraum, kein Text ohne Prätext, kein Wort ohne Vorwort.
Für die Bewegungsart im Korridor gilt: Du sollst nicht bummeln.
Bei der Suche nach den Anfängen des Netzwerk-Denkens stößt man auf Leonard Eulers Lösung des Königsberger Sieben-Brücken-Problems im Jahr 1736. Hier setzt das moderne Graphen-Denken ein, das zur Ersetzung des klassischen Stammbaum-Modells durch Netzwerk-Bilder beitragen sollte. Grund genug, den Beginn der logischen Moderne auf dieses Jahr zu datieren. Ebenso liegen hier die Anfänge dessen, was der Spät-Vitalist Deleuze die Rhizomatik nennt – für ihn kommen das Heil und die Befreiung von der Diktatur des Baums aus den horizontalen Verzweigungen.
Friedrich Kittler: »Topologie und Graphentheorie bilden die Moderne nicht nur ab, sie haben sie gestartet.« ( Die Stadt ist ein Medium , in: Fuchs/Moltmann/Prigge, Hg., Mythos Metropole , 1995)
»Fossile Brennstoffe«: Der Ausdruck wurde im 20. Jahrhundert gebildet, um die zwei klassischen Kohlen mit den neuen Energieträgern Erdöl und Erdgas unter einem Obergriff zu vereinen. Wenn Max Weber in dem Schußpassus seiner Studie zur protestantischen Ethik, 1920, davon spricht, das aktuelle Wirtschaftssystem werde erst an sein Ende kommen, wenn die letzte Tonne Erz mit der letzten Tonne Kohle verhüttet sein wird, nimmt er die Abhängigkeit der modernen Zivilisation von dem titanischen Energieträger Kohle zur Kenntnis (das zu seiner Zeit erst an die Macht gelangende Erdöl hat er noch nicht im Blick).
Webers impliziter Gesprächspartner war damals kein anderer als der Chemiker und Philosoph Wilhelm Ostwald, der mit seinem Buch Der energetische Imperativ , 1912, die Analytik der Endlichkeit auf empirisch-physikalische Grundlagen gestellt hatte. Seit diesem Zeitpunkt ist hingeschrieben, daß das Sparen die Präambel zu jeder Ethik für endliche Wesen in einer endlichen Welt
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