Zeilen und Tage
bilden müsse. Diesen Impuls greift 1926 Heidegger bei der Ausarbeitung von Sein und Zeit auf und überträgt sie auf die Ebene des »Daseins«. Nun wird die subjektive Endlichkeit, die illusionär auf Transzendenz aus ist, an den Ernst der Lage erinnert.
Transzendieren meint die Zugehörigkeit zum Unendlichen reklamieren. Ein realiter transzendierendes Wesen wäre physikalisch von der Ressourcenknappheit emanzipiert. Es wäre ökonomisch mit der Vollmacht zur Verschwendung ausgestattet und könnte sich existentiell an Unsterblichkeit orientieren. Der frühe Heidegger kombiniert nun das Sparmotiv, das aus der Analyse der Endlichkeit folgt, mit einem Heroismus der Verschwendung, der in seiner Denkgebärde den metaphysischen Rest markiert: Man soll sein Leben im Sein-zum-Tode verausgaben, als ob die Unendlichkeit des Todes die Zeit davor in die Senkrechte treibt.Weil Zeit in existentieller Hinsicht die Knappheit schlechthin bedeutet, sollen Menschen ihre zur Flachheit verführenden Träumereien von Unsterblichkeit aufgeben und ihr kurzes Leben mit dem großen Atem der geschehenden Geschichte vereinen.
18. Januar, Karlsruhe
Beste Welt. Er könnte ein Bulletin herausgeben, wonach es ihm den Umständen entsprechend gutgeht. Falsch, es geht ihm viel besser, als es den Umständen entspräche. Nur deswegen läßt er sich aber seinen Pessimismus nicht nehmen.
Siegfried Giedion: »Wo das 19. Jahrhundert sich unbeobachtet fühlt, wird es kühn.«
Ein Mensch, ein Zimmer. Trüby nennt meine in Sphären III notierte Beobachtung, wonach die Zellenordnung mit dem monastischen, später dem bürgerlichen Individualismus korrespondiert, den »puritanischen Imperativ«.
Man kann keinen unangenehmeren Feind haben als einen Versager mit viel freier Zeit.
Der Trierer Kunsthistoriker Andreas Tacke erhält Ende 2010 für sein Forschungsprojekt »Artifex«: Artistic Training by the Guilds in Central Europe up to the dissolution of the Holy Roman Empire nicht nur die höchste Anerkennung, die der Europäischen Forschungsrat zu vergeben hat, sein Unternehmen wird, wenn die veröffentlichten Zahlen korrekt sind, mit Brüsseler Geldern in Höhe von 1,7 Millionen Euro gefördert. Was zeigt: Mit meiner These, wonach Kunstgeschichte und Trainingsgeschichte konvergieren, wie sie in Scheintod im Denken im Anschluß an das Übungsbuch präsentiert wird, renne ich offene Türen ein. Liegen eines Tages die Resultate aus Tackes Werkstattvor, wird man en détail wissen, was im ästhetischen Sektor des Trainingslagers Europa zwischen dem Spätmittelalter und 1800 vor sich ging.
Der Titel von Robert Boyles Buch, The Christian Virtuoso , 1690, erinnert an den Sprachgebrauch des späten 17. Jahrhunderts, als das Wort virtuoso einen vornehmen Dilettanten mit Interesse für Gemmen und Antiquitäten bezeichnete, überdies auch einen Naturphilosophen.
Wer schrieb: »… der Irländer hängt an seinem Schwein wie der Araber an seinem Pferd … er ißt mit ihm und schläft mit ihm«?
Es ist Engels in Die Lage der arbeitenden Klasse in England , 1845. Der Autor meinte im übrigen, es genüge, sich den Zustand der nach England eingewanderten Iren vor Augen zu führen, wenn man in Erfahrung bringen wolle, wo unter Europäern das äußerste Minimum an Elend und Entmenschung liegt. Indirekt gibt der Autor damit zu Protokoll: Nicht aufgrund der niedrigen englischen Fabriklöhne fielen die Iren der Verelendung zum Opfer, vielmehr brachten sie ihr heimisches Niveau an Misere und Verkommenheit aus dem präindustriellen Irland nach England mit und gaben durch ihren heruntergekommenen Habitus die Bodenlinie vor, bis zu der schließlich auch die englischen Arbeiter absinken sollten.
Die moderne Architektur als Experiment über Korridorlosigkeit: Josef Frank entwickelt in Das Haus als Weg und Platz , 1931, das Konzept eines Parcourshauses, in dem jeder Raum eigenwertig gestaltet ist und zugleich als Erschließungsraum für die angrenzende Zone dient. Aus analoger Inspiration postuliert Le Corbusier die promenade architecturale.
Das jüngste Stadium der »Fabrikkultur« im Westen scheint das »gasformige Unternehmen« zu sein. (Trüby, S. 144)
Ein konkret nützliches Resultat der Panikforschung – die zur Sozialen Physik zu rechnen wäre – ist die in der Nähe von Notausgängen zu plazierende Paniksäule. Sie übt die Funktion eines Wellenbrechers aus, der heftige Humanmassenströmungen, wie sie bei einer escape panic auftreten, verlangsamt und entdichtet. Lange
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