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Zeilen und Tage

Zeilen und Tage

Titel: Zeilen und Tage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Sloterdijk
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vor der Duisburger Katastrophe lagen solche Erkenntnisse bei Architekten und Urbanisten vor, doch vermißte man die Übertragung des Architektenwissens aus der Sphäre der building codes auf die der mass event codes.
    Im Kontext der Massenströmungstheorie wird das Individuum als mäßig selbstbewegtes schweres Objekt von durchschnittlich 80kg Gewicht mit variabler Schulterbreite aufgefaßt, das bei Stauungen erheblichen Deformationskräften ausgesetzt ist. Individuen im Massenstrom sind besonders gefährdet, wenn sie der Neigung nachgeben, ihre eigene Massenqualität zu ignorieren. Gern geben sie sich bei Volksfesten und Open-Air-Konzerten euphorischen Levitationsvorstellungen hin und konzipieren sich nicht mehr als schwere Körper, sondern als ekstatisches Gas. Eine Massenpanik kommt einem kollektiven Ikarussturz gleich. Sie führt zur jähen Rückverwandlung eines subjektiv gasförmigen Levitationskörpers in einen halbfesten Gravitationskörper, der wie unter Zwang rücksichtslos zum Ausgang strebt. Man stelle sich eine Schar von Engeln vor, die sich nach einer Anbetung am Ausgang der Kathedrale gegenseitig zerquetschen.
19. Januar, Karlsruhe
    Autismus, moraltheoretisch definiert, besteht in der endogenen Unfähigkeit, die Goldene Regel zu befolgen.
    Wer als Autist beschimpft wird, sollte sich freuen. Man hält ihn nicht für krank, nur für böse.
    Benn über Rilke: »Nicht ganz schlecht für einen Tschechen.«
    Zitiert nach Raddatz, S. 844.
20. Januar, Karlsruhe
    Sascha Goldman berichtet Aktuelles aus Paris: Hinter der jubilatorischen Fassade des Welterfolgs von Stéphane Hessels Büchlein Indignez-vous! hat sich eine Lawine von Hetzereien ausgebreitet, wie man sie sonst nur von der Skandalisierung kinderschänderischer Akte oder antisemitischer Entgleisungen bei Prominenten kennt. In einer abscheulichen Kakophonie sind Intellektuelle aller Couleurs über Hessel hergefallen, sei es wegen des konventionellen Gehalts seiner Broschüre, deren Erfolg man nicht begreifen will, sei es wegen seiner pro-palästinensischen Parteinahmen, auf die Hessel darin kurz zu sprechen kommt. Weil er als Jude den Palästinensern sein Mitgefühl nicht verweigert und Repressalien gegen die israelische Regierung empfiehlt, wurde er von einer Fraktion jüdischer Intellektueller in Frankreich erbittert angegriffen. Dem Conseil Représentatif des Institutions Juives en France (Crif), den man sich als französisches Gegenstück des Zentralrat der Juden in Deutschland vorzustellen hat, wird nun von Beobachtern des Streits erpresserisches Verhalten, ja Zensur vorgeworfen – er habe daran mitgewirkt, eine dieser Tage geplante öffentliche Debatte mit Hessel in der Ecole Normale Supérieure zu unterdrücken. Die unmittelbare Urheberin des Verbots, die Direktorin der ENS, Monique Canto-Sperber, Ethik-Spezialistin von Profession, wird, wie es scheint, aus der Affaire mit einem kaum zu tilgenden Rufschaden hervorgehen, denn wenn es nicht Zensurabsichten waren, die sie bewogen, dann Mutlosigkeit und Konformismus.
21. Januar, Karlsruhe
    Das Raddatzsche Credo: »Nur das Existentielle zählt« ist irreführend. Was zählt, ist das gut Gesagte.
    Am Abend im Schloß Gottesaue ein Konzert der Klavierdozenten der hiesigen Musikhochschule – ein musikalischer Zirkus auf vier Flügeln – mit Ravels Bolero , für sechzehn Hände arrangiert, als Schlußnummer. Keine Branche scheint so globalisiert wie die der klassischen Musik: Allein die Karlsruher Schule beschäftigt zwei Pianisten aus Estland, eine chinesische Virtuosin, einen Argentinier und eine Professorin aus Kasachstan, die wie eine Stammesfürstin, in roten Konzertsaalsamt eingekleidet, erhobenen Haupts über die Bühne schreitet.
    Man denkt bei solchen Anlässen an den Ausspruch von Johannes Brahms, der Elefant sei ein gefährliches Tier, weil aus seinen Stoßzähnen Klaviertasten gemacht werden.
    Kleine Flammen züngeln aus den Möbeln, aus den Steckdosen quillt Rauch, Spalten in den Wänden reißen auf – die ganze Stadt sitzt auf einem unterirdischen Magmastrom, der in Kürze alle Aufbauten zum Einsturz bringen könnte – so ist die Lage in einem Los-Angeles-Katastrophenthriller, der vor einiger Zeit in die Kinos kam. Analog dazu könnte man die Situation der modernen Nationalstaaten auffassen, sofern sie über verborgenen Strömen von Empörungslava errichtet sind: Mit diesem Bild, das ich von einem französischen Autor geliehen hatte, fing ich vorgestern die dritte Karlsruher

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