Zeilen und Tage
Psychopolitikvorlesung an, in der ich Hessels Begriff »Indignation« in den Rahmen einer allgemeinen Thymos-Theorie stellte: Was bei ihm Empörung heißt, ist die Basisregung des Politischen: Man kann dies unter anderem aus der zweiten römischen Gründungslegende über den Selbstmord der Lucretia lernen, nach welcher die res publica aus der Zornaufwallung der Römer gegen den Hochmut der Tarquinier entsprang. Das Publikum saß still, als wollte es das Seine dazu beitragen, daß nicht die Stuhlbeine zu brennen beginnen.
23. Januar, Freudental
Nachträglich, nachtrüglich.
Peter Furth in einem Interview im August 2008: »Wenn man weiß, daß man seinesgleichen nicht nur lieben kann, sondern fürchten muß, dann braucht man viel Platz um sich herum …«
Der Folterer zum Opfer: »Ich würde Ihnen gern sagen, daß es nicht weh tut …«
Nach der Lesung aus Du mußt dein Leben ändern im Kulturzentrum Ehemalige Synagoge Freudental kommt ein Hörer auf mich zu, der sich als protestantischer Pfarrer im Ruhestand vorstellt. Er habe sich mir während des Vortrags sehr nahe gefühlt, ja, ich trage viel heiligen Geist in mir.
24. Januar, Karlsruhe
Bei den Freiheits-Spielen der Griechen, die alle 5 Jahre bei Plataiai veranstaltet wurden, feierte man die Erinnerung an die gewonnene Schlacht von 479. Sie illustrieren die defensive Natur des griechischen Freiheitsbegriffs – eleuthéria –, der vor allem das Nicht-Dulden-Müssen von Fremdherrschaft meint, während die Modernen mit »Freiheit« ein Spektrum völlig anderer Vorstellungen verbinden, namentlich die Unternehmenserlaubnis, das Ausdrucksrecht und, horribile dictu, das Verschwendungsprivileg.
Bei Samuel Beckett bedeutet Freiheitsstreben den Versuch, keine Familie zu haben und keiner Gesellschaft anzugehören. In der Antike ist eleuthéria das Gegenteil hiervon: das Zusammenrücken der Bürger in einer Sittengemeinschaft, die von den Einzelnen nicht weniger verlangt als die Bereitschaft, für die Stadt und für Hellas ins Feld zu ziehen und zu sterben.
Wie bei Shakespeare die Liebe mit der Bereitschaft zur Idealisierung einhergeht:
»Shall I compare thee to a summer’s day?«
»Thou art more lovely and more temperate.«
25. Januar, Marbach Karlsruhe
Zurück aus dem Archiv – wie zurück aus der deutschen Unterwelt, darüber belehrt, daß nicht Eurydike dort zu finden ist, sondern ein Chor von Sängern, von denen sich jeder einzelne für Orpheus hielt.
Ulrich Raulff führte mich zu einigen Arcana des Hauses – darunter die Handschaft Heideggers zu seiner Vorlesung Grundbegriffe der Metaphysik aus dem Wintersemester 1929/30, hier in des Meisters winziger klarer Schrift, randlos auf die Blätter gesetzt. Das Dokument steht in einem Metallschrank, der, deutlicher als jede autobiographische Aussage es könnte, von Heideggers epochalem Selbstbewußtsein zeugt, auf die Eroberung der Nachwelt berechnet und akribisch aufbereitet. Daneben findet sich auf Durchschlagpapier das erste Typoskript derselben Vorlesung, vom Bruder fehlerfrei abgetippt. Es ist berührend zu sehen, in welchem Maß Heidegger Denken mit Schreiben gleichsetzte, ohne die Gleichung je zu bemerken.
In der Ernst-Jünger-Ausstellung, die zur Zeit im Marbacher Literaturmuseum gezeigt wird, sah ich unter der anregenden Führung der Direktorin Heike Gfrereis viele Seltsamkeiten, so den durchschossenen Stahlhelm Jüngers aus dem Ersten Weltkrieg, dazu den Helm eines Briten, unzählige kleine Notizhefte, lose Zettel, Zeitungsausschnitte, Briefe an Gott und die Welt, bibliophile Objekte, Beobachtungen zu Schlangen, Käferarmeen – alles Zeugnisse eines Weltumspannungstriebs, neben dem die meisten gleichzeitigen Versuche der Philosophie schmalbrüstig wirken.
Wieder schlägt der Blitz in der Nähe ein: Abends beim Blättern im Internet die schockierende Nachricht, daß Bernd Eichinger gestern Abend in Los Angeles einem Herzinfarkt erlegen ist. So viele Jahre nebeneinander gelebt mit fernem Blickkontakt. Getroffen hatten wir uns nur noch selten, zuletzt im vergangenen Jahr im Borchardt, von wo wir gemeinsam zum Fest des Bundespräsidenten fuhren und uns dort aus den Augen verloren.
Heft 110/111
26. Januar 2011 – 8. Mai 2011
»… am Ende des Lebens gehen dem gefaßten Geist Gedanken auf, bisher undenkbare; sie sind wie selige Dämonen, die sich auf den Gipfeln der Vergangenheit glänzend niederlassen.«
In einer einzigen Sentenz hat man den älteren Goethe vollendet vor sich: über Zeit und Drama
Weitere Kostenlose Bücher