Zeilen und Tage
schwebend, gelingt es ihm, sich von den Anlässen, die ihn zum Nachdenken bringen, und wären sie noch so niederschmetternd, so weit zu distanzieren, daß sie wie völlig entwirklicht erscheinen.
Das Wort von den seligen Dämonen bezieht sich auf die Gedanken, die Madame Roland in den Minuten vor ihrer Hinrichtung auf der Guillotine am 8. November 1793 durch den Kopf gingen und die sie gerne notiert hätte – weswegen sie mit einer Geste stoischer Ironie noch »auf dem Blutgerüst« Schreibzeug verlangte. Goethe notiert: »schade, daß man’s ihr versagte«, um dann senkrecht in die Verklärung aufzufliegen. Man könnte ihm diese Neigung zur abstrakten Sentenz als Unbarmherzigkeit ankreiden. Zwischen dem Ereignis und dem Kommentar liegen viele Jahre, so daß Goethes Vorliebe für die losgelöste überhöhende Maxime im gegebenen Fall auch seiner zunehmenden Neigung zum Historischnehmen aller Dinge zugeschrieben werden darf. ( Maximen und Reflexionen 258)
Im Gespräch über die großen Begabungen melden sich die Physiologen zu Wort und verlangen das Vorrecht, Bilanz zu ziehen. Im Fall Bernd Eichingers sagen sie, er habe sich in einem Alkohol-Kokain-Teufelskreis verfangen.
Seinerzeit hatten sie in bezug auf Marshall McLuhan statuiert, er habe eine überzählige Halsarterie gehabt, die zuviel Blut ins Gehirn gelangen ließ. Man hatte bei ihm zudem einen apfelgroßen Tumor im Gehirn festgestellt, der 1967 operativ entfernt wurde. Ist es da ein Wunder, wenn er ein Jahr später im Gespräch mit Norman Mailer die These vorbrachte, die Erde sei jetzt kein Teil der Natur mehr, sondern die Inhaltsseite eines Kunstwerks? Man weiß nicht, an welchen Fehlfunktionen Buckminster Fuller litt, als er 1969 die Erde als ein Raumschiff beschrieb, dessen Betriebsanleitung nicht mitgeliefert worden sei.
Im Spiegel finden sich Alexander Kluges bewegte Erinnerungen an Bernd Eichinger, in denen er den toten Freund als »große Seele« lobt – ein starkes Wort, wenn man bedenkt, daß man in der westlichen Welt kaum jemandem diesen Titel beizulegen wagt. Auch in Indien ist man nach Gandhi sparsam mit ihm umgegangen. Ein Satz wie dieser hat seinen Preis. Wenn man auf den ganzen Menschen blickt, hätte man auch von den Signalen sprechen müssen, die in den letzten Jahren auf Bernds prekären Zustand deuteten. Es wäre von einem Persönlichkeitsabbau zu reden gewesen, der niemandem entgangen sein kann, der während der letzten Jahre in seine Nähe kam. Mag sein, daß seine Freunde zu sehr Komplizen waren, als daß sie gegen seine chronische Selbstverbrennung hätten intervenieren können.
27. Januar, Karlsruhe
Nach Bernd Eichingers plötzlichem Tod machen viele sich bewußt, in welchem Maß die deutsche Kino-Branche in den letzten 30 Jahren einer Ein-Mann-Show geglichen hatte. Aber was ist daran so erstaunlich? Talent gibt es auf fast allen Gebieten reichlich, doch den Ton setzen in einer Generation auf einem Feld immer nur ein oder zwei Leute, von einer Passion Getriebene.
»Des Lebens Zittern« nimmt zu. Das schöne Wort kommt in Thomas Manns Tagebüchern vor, Raddatz zitiert es in den seinen. Setze dagegen die Formulierung von Lou Andreas-Salomé: »unabgehobenes Ruhen in einer noch mittragenden Urfülle« – zitiert nach: Mein Dank an Freud , 1931. Die individualisierende »Abhebung« also wäre es, die Unruhe und zunehmendes Zittern bringt.
28. Januar, Karlsruhe Köln
Im Freitagsseminar über »Formen und Medien politischer Herrschaft« bringen wir nochmals das Pamphlet Der kommende Aufstand zur Sprache, gleichsam als Schutzimpfung für die Jüngeren. Die Quellen der Bricolage sind einfach aufzuzählen: Man findet sie im Anarchismus des 19. Jahrhunderts, im Situationismus, im Deleuzianischen Diskurs, im Neuspinozismus mitsamt einigen Querverbindungen zum Surrealismus, zur Camuschen Rede vom homme révolté usw., man kann auch Analogien zur Denkform des Sozialistischen Patientenkollektivs aufweisen. Bezüge existieren zu allem, nur nicht zum Marxismus, weswegen man in linkskorrekten Blättern, wo man vom Regenbogen der Oppositionen und von französischer Theorie keine Ahnung hat, die Behauptung lesen konnte, es sei eigentlich ein rechtes Manifest.
Mit dem Zug nach Köln, wo wir an der Vernissage einer Ausstellung mit den Mädchenbildern von Marie-Luise Lebschik in der Galerie Garnatz teilnehmen. Der Blickfang für uns ist natürlich der Filmessay von Marie-Luise über Mona aus dem Jahr 2007, der die Vierzehnjährige in einem
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