Zeilen und Tage
Reflexionen übernommen wurde, von den Kommentatoren oft überblättert − enthalte in Wahrheit einen philosophischen Großgedanken, von dessen Tragweite sich die Zunft noch immer keine adäquate Vorstellung macht. 80 Jahre vor Nietzsche gewinnt Goethe in seiner Plotin-Kritik den Begriff einer tiefen Oberfläche.
»Wir Menschen sind auf Ausdehnung und Bewegung angewiesen; diese beiden allgemeinen Formen sind es, in welchen sich alle übrigen Formen, besonders die sinnlichen offenbaren. Eine geistige Form wird aber keineswegs verkürzt, wenn sie in die Erscheinung hervortritt, vorausgesetzt, daß ihr Hervortreten eine wahre Zeugung, eine wahre Fortpflanzung sei. Das Gezeugte ist nicht geringer als das Zeugende, ja es ist der Vortheil lebendiger Zeugung, daß das Gezeugte vortrefflicher sein kann als das Zeugende.« ( Maximen und Reflexionen, 643)
Goethe erfaßt erstmals die Möglichkeit, daß im Produkt mehr Vollkommenheit liege als in der Ursache. Mit diesem unscheinbaren Satz ist der Bannkreis der Ursprungsphilosophie durchbrochen, worin der unübersteigbare Primat der Ursachen festgeschrieben war.
Zweierlei Not-Wende: Während Goethe die Rettung aus der Not in der erneuten Zeugung, der Steigerung, dem Vorstoß zum Noch-Nicht erkennt, beschränkt sich Heidegger auf die schonende Bewahrung dessen, was von alters her ist. Er bleibt dem Ursprungsdenken verhaftet – mit der Konsequenz, daß er auch in der Kunst nichts Neues sehen wollte, vielmehr die späte Enthüllung eines von vornherein Angelegten. Bezeichnenderweise ist Heidegger der einzige unter den größeren Theoretikern des Kunstwerks, der Begriffen wie Genie, Kreativität, Erfindung und Neuheit beharrlich aus dem Weg geht.
Sobald die Dinge von der Fessel der überlegenen Ursache befreit werden, stellt sich alles zwischen Himmel und Erde in einem völlig veränderten Licht dar. Jetzt erst sieht man alles in Steigerung, Zuwachs und Emergenz.
Für uns hat die große Wende ihre revolutionäre Eklatanz seit längerem verloren. Ja, seit Bergson von der croissance perpétuelle gesprochen hat, ist für die Nachgeborenen das ständige Werden eine Trivialität. Jeder Dumpfling wälzt sich in Wachstum, Innovation, Entwicklung. Nichtsdestoweniger war die evolutionäre Aufstufung des Seienden der dramatischste Gedanke, zu dem das 19. Jahrhundert sich aufschwingen konnte. Wie die Werke von Ernst Bloch, Whitehead, Gotthard Günther und Deleuze beweisen, war noch das Denken des 20. Jahrhunderts weit davon entfernt, mit dem Motiv des Werdens fertig zu sein.
Der junge Nietzsche notiert: »Der Sturm, der die Dinge umtreibt, ist der Zufall.«
Schmitz zitiert Rothacker mit dem hochfliegenden Satz: »Das Verwirklichen des Lichthaften im Widerständigen ist der eigentliche Sinn des menschlichen Tuns.« ( Goethes Altersdenken im problemgeschichtlichen Zusammenhang , S. 66)
31. Januar, Karlsruhe
Über die aktuelle Diktatur in Weißrußland sagt Svetlana Alexejewitsch, man könne noch heute die stalinistische Maschine innerhalb von Minuten wieder zum Laufen bringen. Das System sei weiter in den Menschen präsent, noch immer sei das Morden und Auslöschen der naheliegende Reflex. Das Schlimmste an dieser Beobachtung ist, daß sie für einen großen Teil des ehemaligen Sowjetreichs zutrifft.
Ehe und Marktwirtschaft – Nachteileentdeckungsverfahren auf dem Weg über die praktische Erprobung der Vorteile.
Mit den Spiegeln kommen die Selbstbildleiden. Vor ihnen lernt der Mensch, sich zu mißfallen.
Beachtlich aktuell geblieben ist die Novelle Der Mann von fünfzig Jahren aus Wilhelm Meisters Wanderjahren , obschon es auch in dieser vergleichsweise zügig erzählten Konstruktion nicht an Passagen fehlt, in denen man den Gips hinter den Tapeten rieseln hört.
Was soll man von einem Satz wie diesem halten: »… so wird den Männern in gewissen Jahren, obgleich noch im völligen Vigor, das leiseste Gefühl einer unzulänglichen Kraft äußerst unangenehm, ja gewissermaßen ängstlich«?
Erheiternd ist Goethes Antizipation der Wellness-Kultur in Gestalt eines »Schönheits-Erhaltungs-Lehrers« bzw. eines Verjüngungshelfers, der den älteren Herrn, der sich von seiner Nichte geliebt glaubt und sie wiederzulieben vorhat, in die für späte Erotik nötige Form bringen soll – wobei die entscheidende Vorschrift zur Erhaltung von bleibender Jugendlichkeit witzigerweise in sexueller Enthaltsamkeit besteht.
Zum Schrecken des Lesers finden sich auch Satzfolgen wie diese: »Alles
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