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Zeilen und Tage

Zeilen und Tage

Titel: Zeilen und Tage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Sloterdijk
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bezaubernden Liebreiz zeigt, erste und zweite Natur in reinster Blüte.
29. Januar, Köln
    Fett und Macht: Die meisten sind zu dick für den kommenden Aufstand.
    »In meines Lebens Wildnis/Hat’s freundlich hineingestrahlt.« Die rostige Brücke über den Rhein leuchtet rötlich in der frühen Sonne, der Dom tut das Seine, um in der Morgenstunde die Vertikale zu verteidigen. Die Wahrheit ist, die Eisenbrücke über den Fluß wurde im korrektesten Schutzfarbengrün gestrichen, doch gegen die Assoziation von Eisen, Frühe und rotem Rost richtet das Sichtbare nichts aus.
    Finde in einem Künstlerinterview den Satz: »Es muß sich erweisen, wir stark die Marke Bregenz ist.«
    Seit die Epidemiologie auch für die Geisteswissenschaften das Paradigma liefert, lassen sich Grippewellen, Erfolgsmarken, expansive Religionen, Schlager und Diätsysteme unter den gleichen Aspekten abhandeln. Eine populäre Marke läßt sich als eine beliebte Pest beschreiben, die Religion als eine erbliche Epidemie, eine modische Diät als eine freiwillige Grippe.
    Kaum jemand weiß noch, daß Becketts erstes Theaterstück nicht Warten auf Godot war, das 1949 vollendet und 1953 durch Roger Blin uraufgeführt wurde, sondern das im Frühjahr 1947 entstandene Theaterstück Eleutheria . Blin, dem beide Stücke vorlagen, hatte sich aufgrund der leichteren Spielbarkeit für Godot entschieden und damit den Anstoß zu Becketts weltweitem Erfolg gegeben. Wie der Titel verrät, enthält das erste Stück eine Freiheitstheorie, deren Pointe aus der Regieanweisung des Autors über die Position des Helden im letzten Bild hervorgeht: »den mageren Rücken der Menschheit zugewendet«.
    Für die Griechen hatte das Wort Freiheit, eleuthéria, das Resultat der Perserkriege bezeichnet: nicht von den Orientalen verknechtet worden zu sein. In Becketts Sicht sind alle Mitmenschen Perser – doch die Vorstellung, ihre Despotie abschütteln zu können, so wünschenswert es wäre, tut er als Illusion ab. Wie bei Schopenhauer das Subjekt auf der Galeere des Willens an seine Ruderbank gefesselt bleibt und nur in seltenen Momenten eine Ahnung von Loslösung erfährt, so erkennt Becketts Freiheitsheld, vergeblich in sein Zimmer zurückgezogen, die unumgängliche Wahrheit an, daß er trotz allem zur Koexistenz mit anderen verdammt ist. Doch bleibt aus seiner Sicht zwischen den Menschen ein elementarer Unterschied: Während die meisten bereit sind, sich ins volle Unmenschenleben zu stürzen, als gäbe es kein anderes, steht für sehr wenige der Ausweg in die große Verweigerung offen – eine Verweigerung, die mehr verneint als bloß die Gesellschaft, wie sie ist. Die wenigen bringen ihr Leben damit zu, ihre Ketten gegeneinanderzureiben. In dem Klirren, das dabei entsteht, hören sie den Klang der unmöglichen Freiheit. Dieses nutzlose Geräusch wird ihr Leben sein. Was zeigt, wie Beckett sich für Schopenhauer als europäische Alternative zum Buddhismus entscheidet.
    Wie eine Mahnung gegen beginnende Alterskränkeleien klangen Goldmans Erzählungen über die neue Liebe des 91jährigen Edgar Morin. Er hat soeben seine Wohnung verkauft, um mit einer 40 Jahre jüngeren Frau an einem gemeinsamen Domizil eine neue Phase des Zusammenlebens zu beginnen. Morin hat den Begriff der Revolution verworfen und den der Metamorphose an seine Stelle gesetzt. Nun wendet er seine Theorie auf sich selber an und reklamiert bis in hohe Alter das Recht, ins Offene zu leben.
    Goethe: »Dulden heißt beleidigen.« ( Maximen und Reflexionen )
    »Der Alte verliert eines der größten Menschenrechte: Er wird nicht mehr von seinesgleichen beurteilt.« ( Maximen und Reflexionen 371)
    Doctor mellifluus lautet der Titel einer Enzyklika von Pius XII. zu Ehren des heiligen Bernhard von Clairvaux, die im Mai 1953 promulgiert wurde. Mehr als 100 Jahre zuvor war er, der Honigfließende, von Pius VIII. in den Rang eines doctor ecclesiae erhoben worden, als bislang letzter Träger dieses Ehrentitels. In seinem Rundbrief schwelgt der Pacelli-Papst in Bildern des marianischen Feminismus.
    Nachträge zur Honigrhetorik bieten der junge Goethe, der 1772 in Wanderers Sturmlied dem harmlosen Dichter Theokrit das Prädikat »honig-lallend« zugesteht, und Morgenstern, wenn er in einem der Palmström-Gedichte notiert: »Und er schreibt in seine Wochenchronik:/Wieder ein Erlebnis, voll von Honig.«
30. Januar, Wien
    Zweierlei Biologie: Auf dem Blog Die Achse des Guten , wo bis vor kurzem gegen Thilo Sarrazins biologisierende

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