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Zeilen und Tage

Zeilen und Tage

Titel: Zeilen und Tage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Sloterdijk
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Thesen polemisiert wurde, bietet jetzt eine Bio-Firma eine »genetische Herkunftsanalyse« zum Nachweis von »jüdischen Wurzeln« an, zweifellos in der Annahme, bei nicht wenigen Besuchern dieser Seite sei ein positives Interesse an einer derartigen Dienstleitung vorauszusetzen.
    In einem Artikel von Telepolis findet sich der Hinweis, die radikallibertäre Autorin Ayn Rand, Apologetin des schrankenlosen Wettbewerbs und des basalen Egoismus, neuerdings Heldin der Tea-Party-Bewegung, zudem stolze Kettenraucherin, habe nach ihrer 1974 diagnostizierten Erkrankung an Lungenkrebs nennenswerte Beihilfen seitens der staatlichen Gesundheitsvorsorge Medicare sowie Zuwendungen der Social Security in Anspruch genommen – zwei Einrichtungen, gegen deren »Amoralität« die Autorin heftig polemisiert hatte. Sollten sich diese Enthüllungen bewahrheiten, sie würden nicht mehr zeigen, als daß die libertäre Pose ebenso verlogen sein kann wie die kommunistische, sofern beide mit parasitärem Verhalten verträglich sind. Die Triftigkeit der »Enthüllungen« bleibt problematisch, da man sich Ayn Rand, deren Bücher schon zu Lebzeiten Millionenauflagen erreichten, als wohlhabende Person vorstellen muß.
    Bei ihrer Beerdigung auf dem noblen Kensico-Cemetery des Dorfs Valhalla im Staat New York 1982 war ihr größter Bewunderer und intellektueller Ziehsohn anwesend, Alan Greenspan.
    Ein Wiener Freund, der Nordafrika und den Nahen Orient aus beruflicher Erfahrung kennt, ordnet die Vorgänge in Tunesien in die Szenarien von Washingtons Geopolitik ein, der zufolge für Amerika gut ist, was Europa schwächt. Die Destabilisierung Nordafrikas werde mittelfristig zu einer Schwächung Europas führen, da es in absehbarer Zeit zahlreiche Flüchtlinge aus den agitierten Regionen wird aufnehmen müssen. Das Argument ist leicht zu fassen: Binnen eines Jahres ist die Genugtuung über die Vertreibung des Despoten Ben Ali verraucht, dann setzt die Phase der Enttäuschung ein, weil alles viel langsamer vorangeht als erhofft. An der Enttäuschungsklippe scheiden sich die Ströme – auf der einen Seite wird es zu Radikalisierungen kommen, auf der anderen zu Resignation und Auswanderung, und weder die eine noch die andere Entwicklung kann den Europäern willkommen sein.
    In Wahrheit sind die Dramen an der Peripherie für die Nationen nördlich des Mittelmeers nur so lange zu begrüßen, wie ihre Konsequenzen nicht allzu belastend auf das »Zentrum« übergreifen. Sarkozys dubioses spätes Angebot an den tunesischen Despoten, mit französischer Hilfe für Ruhe im Land zu sorgen, sei ein Ausfluß nüchterner politischer Kalküle gewesen. Es bezeichnet Sarkozys Leichtsinn, wenn er nicht erkannte, daß man mit einem müden Despoten keine Realpolitik mehr treiben kann. Hier kam ihm das historisch Neue in die Quere, sofern es ein Novum darstellt, wenn auf die Brutalität arabischer Diktatoren kein Verlaß mehr ist. Noch unerwarteter war der Eintritt der ersten nordafrikanischen Internetgeneration in das politische Theater.
    Sollte der Funke überspringen und auch Mubarak stürzen, so wird es für die Europäer bitter ernst, für Briten und Franzosen an erster Stelle. Sie müßten realpolitisch Farbe bekennen, wenn eine islamistische Machtübernahme in Ägypten verhindert werden sollte. Israel würde sich gezwungen sehen, an einer unruhig gewordenen ägyptischen Front zu intervenieren, nachdem es sich seit über 30 Jahren als Nachbar von Mubaraks statischer Diktatur sicher fühlen konnte. Sollte Ägypten mehr Demokratie wagen, würde sich dies bald in antijüdischen Eruptionen manifestieren. Man las dieser Tage die Forderung, das krankende Mubarak-Regime solle wenn nötig mit israelischen Waffen unterstützt werden.
    Aus Schillers Theologie des Julius : »Begierde nach fremder Glückseligkeit nennen wir Wohlwollen.«
    Jedoch: »Im Knechtsgefühl ihrer eigenen Entwürdigung haben sie sich mit dem gefährlichen Feind des Wohlwollens, dem Eigennutz, abgefunden … entartete Sklaven, die unter dem Klang ihrer Ketten die Freiheit verschreien.«
    In dem großen Goethe-Buch des jungen Hermann Schmitz findet sich der Hinweis, der Dichter habe sich nach Schillers Tod 1805 »alt« gefühlt. Das erste, was er nach diesem Einschnitt aufgriff, sei das Motiv der Fortpflanzung bzw. des Heraustretens des Wesens in die Erscheinung gewesen, das ihn zu einer schöpferischen Auseinandersetzung mit Plotin bewegte. Das Resultat – eine kurze Notiz, die in die Maximen und

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