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Zeilen und Tage

Zeilen und Tage

Titel: Zeilen und Tage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Sloterdijk
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Ortega nicht recht erfaßt, ist Goethes intimes Dramenschema: Da er als totgeborenes Etwas zur Welt gekommen war, erstickt und »schwarz«, konnte es für ihn Leben nur in der Form des wiederhergestellten Lebens geben, eines Lebens, das sich immer wieder gegen die eigene schützende Erstarrung behaupten mußte – weswegen er unter dem Diktat stand, alles, was ihm begegnete, expliziter als andere in Besitz zu nehmen. Das erzeugte bei ihm die Neigung, seine Fülle vor sich her zu tragen. Daher auch die ständige sammelnde und überhöhende Gestik. Er gehört zu den wenigen, die spüren, daß die Normalität nur um den Preis einer schöpferischen Anstrengung zu haben ist. Selbst in den Gemeinplätzen sieht er Errungenschaften, die es wert sind, im eigenen Denken regeneriert zu werden. Seine sämtlichen Werke sind selbstgeburtliche Aufführungen über einer Urszene initialer Vernichtung.
    Mag sein, daß Ortega Goethes Weimarer Masken und Hüllen mit der »scheintoten« theoretischen Distanzhaltung verwechselt, die von der klassischen Philosophie untrennbar war. Er projiziert die vitalistische Selbstheilung der Philosophie, die er für das moderne Denken postuliert, auf die Existenz des Dichters, ohne dessen existentiellem Gesetz nahezukommen.
    Der Scholastiker sagt: ignoti nulla cupido. Es gibt kein Verlangen nach dem, was man nicht kennt. Irrtum, antwortet der Psychologe, das intensivste Begehren richtet sich auf das Ich-weiß-nicht-was.
    Bei der Lektüre von Dennis Duttons Essay The Art Instinct, 2009, drängt sich eine paläontologische Vermutung auf: Wir schauen aus dem toskanischen Fenster, und was wir sehen, nennen wir die »schöne Landschaft«. Wir wissen nicht, daß wir von einer transponierten Savanne reden. Die schöne Landschaft ist ein Suchbild, quasi eine angeborene Vedute der Gelassenheit.
    Wie Korrektheit und Dummheit am selben Seil ziehen. Wenn der Spiegel heute dafür plädiert, die Münchener Sicherheitskonferenz – ausgerechnet sie – hätte den Aufständischen in Ägypten ein »klares Signal« der Unterstützung senden müssen, zeigt sich, wie leicht der wohlmeinende Unverstand die Gegebenheiten überfliegt. Von dem 80-Millionenvolk der Ägypter ist die Hälfte jünger als 25 Jahre, für jeden Berufsposten im Land gibt es mindestens fünf Anwärter, es wäre ein Wunder, wenn in den kommenden Jahren nicht heftige Kämpfe um den Zugang zu den wenigen Stellen, die so etwas wie Lebenssicherheit versprechen, ausbrächen. Ob hierbei demokratisch, nationalistisch oder islamistisch polemisiert werden wird, wird nahezu nebensächlich sein. Unsere Freunde vom Spiegel sind ihren Kommentarreflexen zu sehr ausgeliefert, um den Ernst der Lage zu verstehen. Es gibt Situationen, in denen man Freiheit sagt und Massaker bekommt.
    Die jordanische Königin Rania weiß besser, wovon sie spricht, wenn sie auf die 100 Millionen arbeitslosen Jugendlichen hinweist, die bis zum Jahr 2020 die Länder des Halbmonds unter Stress setzen. Wer zudem die USA dafür tadelt, sie hätten ebenfalls die Chance zu einem ermunternden Signal an die jungen Ägypter verpaßt, begreift nichts vom strategischen Wert der nordafrikanischen Vorgänge auf dem amerikanischen Schachbrett. Für die Spielmacher in Washington laufen die Dinge, wie sie sollen, solange sie in ihrer Summe dafür sorgen, daß die Europäer in den kommenden Jahrzehnten den nordafrikanischen Klotz am Bein haben werden.
7. Februar, Karlsruhe
    Bei Anne Will sah man gestern abend einen abgeklärten Egon Bahr, der seinen politischen Grundgedanken nicht verhehlte: daß Europäer sich nicht einmischen sollen, wenn in Nicht-Demokratien neue Zustände ausgehandelt werden, Zustände, die auch nach dem Umsturz kaum dem gleichen werden, was Europäer unter demokratischen Verhältnissen verstehen. Als ein Mann, der sein Leben in der Schule des außenpolitischen Denkens verbracht hat, weiß er, in Nordafrika wird kein sozialdemokratisches Wunschkonzert stattfinden, sowenig wie in Rußland, in China, in Saudi-Arabien und hundertzwanzig anderen autoritären Regimen.
    In seiner Weisheit kann er es wohl verstehen, wenn schon nicht gutheißen, wenn in solchen Momenten die hilflosen Wohlgesinnten von ihren Plätzen aufspringen und rufen: »Heuchelei des Westens«, unfähig wie sie sind, zu begreifen, daß Heuchelei nur ein anderes Wort ist für die Kunst des Möglichen.
    Alle Tiefe ist unfreiwillig.
8. Februar, Karlsruhe
    Aus den Berichten über die Trauerfeier für Bernd Eichinger in der

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