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Zeilen und Tage

Zeilen und Tage

Titel: Zeilen und Tage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Sloterdijk
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alten Goethe dirigiert, es ist die Angst vor dem Zwischenfall. Sie treibt seine späte Beschreibungsliteratur hervor, deren einzelne Blätter umgehend ins Buch der »herrlichen Weltszenen« ( Wanderjahre , S. 234) eingeklebt werden.
    Nur Goethe weiß, wie Goethes Werk zu rezipieren ist: Nachdem der Sänger im späten Roman das Lied Kennst du Land, wo die Zitronen blühn angestimmt hatte, legt der Autor folgende Reaktionen fest: »Hilarie stand erschüttert auf und entfernt sich, die Stirne verschleiernd (S. 239) … und als sie nun alle viere im hohen Mondschein sich gegenüberstanden, war die allgemeine Rührung nicht mehr zu verhehlen …« Der Mann fällt dem Mann in die Arme, die Frau der Frau, der erschütterte Konsensus ist wiederhergestellt. Man sperrt gemeinsam die Libido aus und versucht, so gut es geht, auf die Entsagung stolz zu sein. Der Autor hat Ereignislosigkeit gelobt, und seine Figuren halten sich daran, indem sie die Katastrophe der Berührung aus Leidenschaft verbannen. Wozu auch kopulieren, wenn man miteinander aquarellieren kann.
    Permanent macht Goethe das Große Graecum, das Große Persicum, das Große Sinologicum. Zuletzt ist er ganz Chinese und spielt mit sich selbst Verbotene Stadt.
    Als erster Goethe-Experte war der große Weimarer eo ipso sein eigener Dämonologe. Der trat früh morgens ans Bett des großen Manns und fragte: Was nimmt unser gefährlicher Geist heute in Angriff? Gibt es denn Neues aus den Abgründen zu melden? Aus welcher Richtung erwarten wir für diesmal die Bedrängnis? Mit welcher bitteren Not wird heute unser vitales Prinzip siegreich ringen?
10. Februar, München
    Bei Huberts Geburtstagsfest wie üblich viele schöne Menschen. Aus aller Welt wurden ganze Paletten voll most important persons angeliefert. Zur festlichen Üblichkeit gehört auch der Hummer bei der Vorspeise.
    Dazu kommt die Tischredenpflicht, der sich die Schwergewichte unter den Gästen nicht entziehen können. Es sprachen Lord Weidenfels, der nach der Sicherheitskonferenz ein paar Tage länger in München geblieben war, Wolfgang Reitzle, der CEO von Linde, und Maria Furtwängler, die ihren Gatten durch feministische Sticheleien über Frauen in Vorständen sehr verärgerte.
    Bei Hubert war eine bedenkliche Geburtstagmelancholie wahrzunehmen, die er nur durch große humane Routine und zeitlebens geübten Gastgeberathletismus kompensierte. Was ihm wirklich durch den Sinn ging, verriet sich in einem von ihm bei Tisch erzählten Witz: »Ein Mann erscheint auf der Polizeistation, ganz niedergeschlagen, und sagt verwirrt: ›Ich habe meine Frau geamselt.‹ Darauf die Polizisten: ›Da hatten Sie sicher viel Spaß.‹ Der Mann: ›Ich habe mich falsch ausgedrückt, ich habe sie gedrosselt.‹«
    Es scheint, Goethe exponiert nicht nur die Idee der Ur-Pflanze, er ist zugleich auf der Suche nach der Ur-Vedute: Er erstrebt den Anblick einer unantastbaren Landschaft, aus der alle anderen aufgeräumten Landschaftsbilder herzuleiten wären. Wie die Ur-Pflanze nicht verwelkt, bleibt die Ur-Landschaft von Tod, Geschichte, Krieg und Industrie unberührt.
    Früh sagen die Großen, was auf sie selbst zurückfallen wird. Goethe im Egmont : »Wer sich schont, muß sich selbst verdächtig werden.«
    Der 31jährige schreibt an Charlotte von Stein: »Je älter man wird, desto mehr verschwindet das Einzelne, die Seele gewöhnt sich an Resultate und verliert darüber das Detail aus den Augen.«(Brief vom 12. September 1780). Lange bevor er seine »besten Jahre« erreicht, setzt der Autor sein Programm für das höhere Alter auf – und fängt auf der Stelle mit seiner Verwirklichung an.
    Entsagung ist einer der notorischen Schlüsselbegriffe des älteren Goethe, den weder er selbst noch seine Interpreten richtig aufzulösen vermochten. Der Ausdruck deutet auf den Stress, der durch Entzug entsteht – er bezeichnet gleichsam ein existentielles Luftanhalten, das der Fassung zugute kommt. Bei Goethe bedeutet er zugleich das Sich-Zurückziehen in eine enorme Idylle, deren Statik von vielfältigen Beschäftigungen koloriert wird. Der freiwillige Stillstand kann nur durch äußere Lebensnöte oder endogene Krisen aufgesprengt werden. In solchen Umbruchphasen erlebt der Autor, wie sich das Rad des Schicksals zu seinen Gunsten weiterdreht. Aufgrund von neu erzeugter Evidenz wird er dann sagen können, das Zufällige arbeite in seinem Fall stets im Dienste des Notwendigen.
    In den statischen Perioden fällt die Geste des Eintauchens ins

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