Zeilen und Tage
Münchener Michaelskirche geht hervor, daß es bei der Zeremonie weniger peinlich zuging, als zu befürchten war. Beachtlich das fair play des Wetters, das München leuchten ließ, wie es dem Tag entsprach.
Was war es eigentlich, wovon man Abschied nahm? Es wurde in der Feier nicht ausgesprochen, weil der Weg vom Empfinden zum Sagenkönnen niemandem offenstand. Das Rätsel des Verlusts spürten alle, die Redner brachten es auf ihre Weise zum Ausdruck. Was war es gewesen, das Bernd verkörpert hatte? Vielleicht das eine: den Wahnsinn eines Menschen, der von Anfang an wußte, wo sein Platz sein mußte. Es gab nicht viele Besessene dieses Stils in unserer Generation. Wer schriebe den Bericht an eine Akademie über die in der Welt Eingelieferten der Jahrgänge 1945-1949, die früh geahnt hatten, der Durchbruch ins Freie würde für sie nur über höhere Aufstiege gehen?
Um den einsamen Wolf herum gibt es viele gesellige Wölfe. Er gleicht sich ihnen an, er geht mit ihnen aus, er hält sie frei. Vom Grund seiner Einsamkeit weiß er so wenig wie seine Umgebung. Nur selten wird vom Motiv seiner Getriebenheit etwas manifest. Er spürt jedoch bei jedem Schritt, daß ihn der Boden jederzeit verschlucken könnte.
9. Februar, Karlsruhe München
In der besten Welt. Du kennst diese Stunde am Morgen, wenn dir das Dasein wie die Fortsetzung der Nacht mit offenen Augen erscheint. Alles ist in Wachheit aufgelöst. Überall Freundlichkeit, Geschwisterlichkeit, Nähe, Faßlichkeit. Die Mädchen am Bahnhof laufen vorbei wie verwunschene Schwestern, die man mit einem Grashalm kitzeln könnte, die Männer sind Kameraden aus dem Bergwerk, mit denen man so oft unten war. Der Zug nach Stuttgart erscheint wie eine maßstabgetreue Vergrößerung der Modelleisenbahn, mit der wir vor fünfzig Jahren spielten. Die nehmen wir heute für die Reise in die Wirklichkeit.
Was man an Goethe ebenso faszinierend wie entnervend finden kann, ist die Art und Weise, wie er sich ständig die Dinge zurechtlegt, um sie in seine unnachgiebig erbauliche Selbstfiktion zu integrieren.
Es muß in Goethes Leben einen Tag gegeben haben, von dem an er sich zum Goethe-Experten wandelte. Von Stund an geht er durch die Räume seines großen Hauses wie ein Archivar, um ein Marbach von innen bittend, in Dichtung und Halbwahrheit versunken, vor allem wenn er in Gegenwart pietätvoller Zeugen von sich selber redete. Vor ihnen wurde er zum Sentenzen-Automaten, der Endgültiges zum Mitschreiben von sich gab.
Wahrscheinlich ist der übermäßig getragene und offiziöse Duktus seiner späten Prosa durch den Habitus des Diktierens zu erklären – was gleichzeitig den Schlüssel zu dem Phänomen liefern dürfte, daß seine poetischen Stücke, die er auch damals eigenhändig schrieb, um mehrere Dimensionen beweglicher, leichter, intensiver gerieten als seine zunehmend feierlich-konventionell erstarrende al-fresco-Verlautbarungsprache. In den Wanderjahren finden sich Seiten, bei denen man meinen könnte, Goethe wolle im voraus Thomas Mann parodieren, wenn dieser sich auf seinen Spuren bewegt:
»In Gegenwart der neuen Freunde rief man sich die älteren zurück, vermißte man die neuen, so mußte man bekennen, daß auch diese schon starken Anspruch an Erinnerung zu erwerben gewußt. Nur ein gefaßter, geprüfter Geist wie unsere schöne Witwe konnte sich zu solcher Stunde völlig im Gleichgewicht erhalten …«
Haltung annehmen, Selbsterhaltung treiben, das Dasein als Gleichgewichtsübung bewältigen.
Wer Goethes modus vivendi verstehen will, sollte dem Haus am Frauenplan einen Besuch abgestattet haben. Dort sieht man auf den ersten Blick, wie Gips und Geist zu praktischen Synonymen geworden waren. Ohne Gips keine Antikensammlung – das gilt für die Goethezeit im allgemeinen und für den Goethesalon am Frauenplan im besonderen. Doch Vorsicht, Gips ist nicht Marmor für das Volk, sondern der Stoff, aus dem für die Damaligen die Antike gemacht war. Natur und Bildung hatten sich auf den Gips als universales Darstellungsmittel geeinigt – er ist die hyle des Klassizismus. Wer auch immer auf sich hält, hat Kopiender klassischen Bildwerke in seinen offiziellen Räumen. Selbst fürstliche Sammlungen scheuen vor der Gipsantike nicht zurück. Zudem unterstützt die weiße Materie den monochromen Idealismus der Griechenlandschwärmerei. In diesem Material präsentiert sich, was in der Philosophie der Zeit die »Anschauung« genannt wurde.
Es ist nicht Angst vor Einfluß, die den
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