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Zeilen und Tage

Zeilen und Tage

Titel: Zeilen und Tage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Sloterdijk
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Spurenmacher in die Flüchtigkeit des spontanen Gedächtnisses. Man weiß nur, was man schreibt. Ansonsten wäre über den ominösen Kasten nur soviel zu sagen, daß er seinen Kustos zeitlebens am spontanen Denken gehindert hat.
    Fahre fort mit der Lektüre von Wilhelm Meisters Wanderjahren , einem Buch, das ein pietätvolles Lesen verlangt, samt der Bereitschaft, über seine Längen hinwegzusehen und seine Schwächen als Kühnheiten zu deuten. Diese Art der Lektüre ist ernsthaft bei soviel Breite und Betulichkeit kaum noch zu leisten. Durchgehend ist der Gebrauch des Adjektivs beim alten Prosa-Goethe harmoniesüchtig, zwanghaft dem Guten und Positiven ergeben, wie von einem Daseinsdekorateur hingesetzt. Der Einsatz des Verbums ist zeremoniell überzogen. Den Gedanken an die Handlung hat der alte Herr längst aufgegeben, statt dessen bietet er immer öfter Veduten an, am liebsten von Parks mit Schlössern und Stuben, in denen ruhiggestellte Frauen am Stickrahmen sitzen – man möchte schwören, sie arbeiten auch an Bildern von Schlössern mit Parks und leisen Frauen mittendrin.
5. Februar, Karlsruhe
    Von Heinsohn ein Papier, in dem es heißt, Europa ist kein Imperium, sondern ein Sozialhilfebündnis. Es sollte nicht verboten sein, über seine Zerlegung und Neukonfiguration nachzudenken. Heinsohn zerschneidet es fröhlich in drei neue Blöcke: ein Bündnis der nördlichen Monarchien, eine hochpotente Alpenkonföderation und einen südlichen Block, in dem die Mittelmeerländer unter sich wären. Eine jeder der neu zugeschnittenen Einheiten könnte sich als lebensfähiger erweisen als die Brüsseler Union, die ein Gesamtkunstwerk aus gegenseitigen Behinderungen darstellt.
    Um einen Goethe von innen bittend : Ortega notiert in seinem Essay von 1932 aus Anlaß von Goethes 100. Todestag: »Der Mensch war ein Tier mit Klassikern.« Unsere Vorfahren erbtendie Methoden der Alten, für sie war die Vergangenheit die Quelle zu allem savoir faire. Und nun, im 20. Jahrhundert, überall Enterbung, wilde Neuheit, Improvisation ohne Synthese, zentrifugale Welt. Die Tiere ohne Klassiker sind von der Leine gelassen.
    Mit gutem Recht stellt Ortega die Frage, wie man sich Goethes Leben und Werk vorstellen dürfte, hätte er sich nicht schon in viel zu jungen Jahren unter der Glasglocke von Weimar gefangensetzen lassen. Hätte er einen anderen Gang entwickelt, weniger steif? Hätte er in seinen späten Jahren andere Werke verfaßt, weniger gestelzte? Wäre er als Person beweglicher geblieben und hätte seinen Körper nicht durch die Welt getragen, wie man Standarten in Prozessionen vor sich her trägt? Hätte er sich vor dem ständig überhöhten Ton auf dem Gipsolymp hüten können?
    Ortegas Diagnose fällt nicht gnädig aus: Weimar hat Goethe kein Glück gebracht. Goethe konnte dort für die deutsche Kultur nicht das werden, was er anderswo möglicherweise hätte werden können. Die große Verfehlung zwischen Goethe und den Deutschen, die Nietzsche konstatierte, sei schon durch Goethes Selbstverfehlung bedingt gewesen, seinen Rückzug ins Symbolische, Exotische, dämonisch-Philisterhafte, weimarisch-Vegetative.
6. Februar, Karlsruhe
    Nach den Morgenstunden im Bad hält bis zum Abend eine unverantwortliche Stimmung an, wie wenn eine zugängliche Bademeisterin nebenan weitere Anwendungen bereithielte.
    Als galantuomo fällt Ortega durchs Examen, als Formulierer erhält er den Preis der Jury: »Ich habe mir nie Fichte in einem Gespräch mit Frau von Stein vorstellen können, weil ich mir nicht vorstellen kann, daß ein Büffel je mit einem Schatten sollte sprechen können.« ( Um einen Goethe von innen bittend , S. 295)
    Dem wirklichen Schicksal weicht Goethe aus, Napoleon sagt ihm, warum: »Die Politik ist das Schicksal.« Eben damit will der Weimarer Symbolist nichts zu tun haben. Er beharrt auf innengesteuerter »Entwicklung«, er reklamiert das Vorrecht der eingesponnenen Existenz, in der sich jeder weitere Schritt mit endogener vegetativer Notwendigkeit ergäbe, zugleich getragen von providentieller Fügung. Am Anfang war alles, nur nicht die Tat, die Entelechie soll ja das Wesentliche bewirken. Wo sie am Werk ist, herrschen verbündete Schicksalsmächte. Sofern ein Moment von Drama interveniert, geschieht dies, weil die Keime des ruhigen Werdens der Bedrängnis, der Not, dem Risiko des Scheiterns ausgesetzt sind. Doch behält die »Entwicklung« das letzte Wort, indem sie ihre Pflicht erfüllt, über Widerstände zu siegen.
    Was

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