Zeilen und Tage
»volle Leben« beiseite. An ihre Stelle tritt das Sammeln von Albumblättern, die schöne und merkwürdige Anblicke festhalten.
11. Februar, München
Vor den Komparatisten ist keine Aktualität sicher. Kaum versammeln sich die Ägypter mehrere Tage in Folge auf dem Tahrir-Platz von Kairo, rücken schon die Archivare aus und zählen andere Plätze auf, an denen Revolutionen versucht wurden, von der Place de la Bastille über den Wenzelsplatz und den Königsplatz bis zum Tiananmen und zum Paradiesplatz von Bagdad, auf dem im April 2003 die Statue Saddam Husseins vom Sockel gestürzt wurde. Diktatoren lernen daraus: Plätze sind Architekturen der Versammlungsfreiheit. Wer die nicht fördern möchte, wird über die platzlose Stadt nachdenken.
Beim plötzlichen Kindstod sind Eltern und Mitwelt seit jeher mit dem Phänomen konfrontiert, daß gesunde Säuglinge oder Kleinkinder über Nacht ihr Engagement für das Dasein aufgeben, als ob sie einem Sog von der Herkunftsseite her noch nicht genügend Widerstand entgegensetzen könnten. Doch treten Fälle solchen plötzlichen Aufhörens auch bei jungen Erwachsenen auf, von denen man noch viel weniger begreifen kann, wie es zum Widerruf des Vertrags mit dem Dasein kommen mag. Sind es nur physiologische Betriebsstörungen mit fatalen Folgen? Sind es Manifestationen einer Urnegation? Wie auch die Antwort ausfällt, die mangelnde Anhänglichkeit an das Leben wirft einen Schatten auf die metaphysische These von der besten aller möglichen Welten.
Aus der Beschäftigung mit Dennis Duttons Essay über den Kunstinstinkt geht hervor: Der uns am meisten betreffende Epochenbegriff ist einer, der niemand geläufig ist, der des Post-Pleistozäns. Er besagt, der Mensch ist das Wesen, das die Savanne hinter sich hat. Infolge des Exodus aus der evolutionär optimalen Umgebung schwebt uns danach für immer ein Suchbild vor: die intelligible Landschaft von einst, für die uns weder die Wüste noch der Wald noch die Prärie befriedigenden Ersatz bieten können, auch das Gebirge nicht, um von der Stadt als Umwelt nicht zu reden. Am ehesten kommt der Englische Park dem verlorenen Urbild nahe. Die attraktivste Landschaft ist jene, die zugleich überschaubar und stellenweise interessant gerafft wäre, leicht begehbar, doch nicht ganz enthüllt, vertraut und immer noch überraschend. Erst mit dem Blick der Renaissancemalerei aus dem Fenster der signoralen Villa am Hügel nähern die Modernen sich dem Moment, von dem an zwischen Auge und Wunschlandschaft neue Verhandlungen beginnen. Dies ist der anthropologische Augenblick der Toscana.
12. Februar, München
Mit Stefan und Hubert in der Osteria, wo letzterer sich von der in seinen Augen mißglückten Geburtstagsfeier (»blöde Reden«) erholt, entwickelte sich ein Gespräch über die These, wonach die Denkaufgabe der Kirchenväter, die Botschaft des Neuen Testaments in der Sprache der griechischen Philosophie zu codieren, für die intellektuelle Entwicklung Europas fatal gewesen sei.
Das mag so sein, doch die Begegnung Athens mit Jerusalem zeitigte auch produktive Tendenzen, weil die Verbindung von griechischer Physik und jüdischer Demiurgie auf lange Sicht das Prinzip Technik freizusetzen half. Hier stießen zwei Ursprungsmythen zusammen, die sich gegenseitig korrigierten. Aus jüdischer Sicht stand am Anfang die göttliche Herstellung des Universums, während nach griechischer Auffassung ein anfangsloser ewiger Logos die Welt durchherrscht. Für Griechen kommt die Idee der Schöpfung einer Weltlästerung gleich, während für die Juden die Kosmosidee die pure Gotteslästerung darstellt, als ob es die Welt ohne den Schöpfergott geben könnte.
Beim späteren Schelling sieht man, wie sich die beiden Blasphemien gegenseitig aufheben. Nun heißt es, die Natur selbst schlage im Menschen die Augen auf und fange an, sich zu begreifen. Dieser Augenaufschlag ist theologisch relevant: Mit ihm wird Gott selbst evolutionär in Bewegung gebracht. Er tritt von der Seite des Ursprungs auf die Seite der Resultate über – eine Rolle, die einem Gott, der vorgeblich anfangs Himmel und Erde schuf, nicht auf den Leib geschrieben war. Einige der größten Denker legen ihre Passion in diese Wende. Dabei kommt ein Gott in Sicht, der Zukunft hat. Ist erst einmal die Zukunft inthronisiert, wird es zur Geschmacksfrage, ob man Gott später wegläßt oder nicht.
Nichts anderes ist der revolutionäre Bruch im Denken des 19. Jahrhunderts. Die Resultate schwimmen sich
Weitere Kostenlose Bücher