Zeilen und Tage
bereits vollzogen war.
Was den republikanischen Traum von einem Gemeinwesen ohne Adel und Klerus angeht, nimmt die Marseillaise den fröhlichen Henkerston des seit 1790 gesungenen »Ah, ça ira!« auf. Doch während das letztere Kampflied sich mit löwenbrüllerischem Elan begnügt, wobei man die Eignung von Laternen als Galgen entdeckt, bringt die Marseillaise einen rassistischen Zug in die Adelspolemik ein. Ohne bei diesem genau hinzuhören, wird man die jakobinische Verschärfung zwischen 1792-1794 schwerlich begreifen.
Dies ist Hegel in seiner Darstellung der Dialektik von Herr und Knecht entgangen: In seinem Bild vom Kampf der herrschenden und dienenden Bewußtseine war nicht vorgesehen, daß der Herr als der blutsfremde Eindringling aufgefaßt würde, den man nicht bloß entthronen, sondern physisch ausrotten will.
Tocqueville gab mit L’Ancien régime et la révolution , 1856, den Anstoß zu einer großräumigen Betrachtung, in der die Französische Revolution keinen absoluten Bruch, geschweige denn einen Ursprung bedeutete, ausgenommen den des egalitären Mythos. Vielmehr wäre sie eine Episode in einem längeren Prozeß gewesen, der schon bei Richelieu und Louis XIV. Kontur gewonnen hatte: Dieser zielte auf die Herausbildung eines modernen Verwaltungsstaats, zu dessen wohlverstandenem Funktionieren eine bürgerliche, in Maßen demokratische Gesellschaft gehören sollte. Folglich lag die Revolution auf der Linie des besseren Ancien régime, genauer der Herrschaft der großen Kardinäle und Louis’ Quatorze.
An Ludwig XVI. bleibt der Vorwurf hängen, er habe die Radikalisierung der Revolution und ihre Entartung in den Gesinnungsterror mit auf dem Gewissen, weil er durch seine törichte Flucht im Juni 1791 den Beweis lieferte, wie wenig er die Unumgänglichkeit des Übergangs von der absoluten zur konstitutionellen Monarchie begriffen hatte. Sein Verhalten war schuld daran, daß die unvordenkliche Liaison von König und Volk ihre bindende Kraft verlor. Als König, der vor seinem Volk floh, hatte er nicht nur sein Amtscharisma verspielt, sondern auch die persönliche Anhänglichkeit der Massen an den Mann auf dem Thron leichtfertig zerrüttet. Bis zuletzt vermochte er nicht einzusehen, wie man anders als von Gottes Gnaden König sein könnte. Weder sah er die plebiszitäre Monarchie der beiden usurpatorischen Kaiser noch die präsidiale Monarchie Louis Philippes voraus. Einer möglichen Änderung seiner ererbten Ansichten kam der Tod unter der Guillotine zuvor.
In seiner Ahnungslosigkeit hinsichtlich des Kommenden war Ludwig XVI. der durchschnittliche Vertreter der europäischen Eliten. Als die Revolution geschehen war, waren alle von ihrer Fatalität überwältigt. Bevor sie begann, ahnte niemand, was kommen würde. Tocqueville: »Nichts ist geeigneter, Philosophen und Staatsmänner zu Bescheidenheit zu mahnen, als die Geschichte unserer Revolution, denn niemals gab es ein größeres, ein länger und besser vorbereitetes und trotzdem weniger vorhergesehenes Ereignis.«
3. Februar, Karlsruhe
Vormittagsexistentialismus. Sonne, Tee, Zigarre, Papiere.
Nicht zu vergessen: Der Begriff »résistance« taucht auf der Bühne der politischen Semantik in royalistischen Blättern nach 1789 auf, namentlich in L’ami du roi (ab Juli 1790) und Les actes des apôtres (ab November 1789), in denen es heißt, man müsse den Verbrechern Widerstand leisten, die die heilige Ordnung der Dinge umstürzen.
4. Februar, Karlsruhe
Lebenszittern. Soeben die Meldung, Edouard Glissant sei gestorben, 82jährig, ebenso Maria Schneider, nicht ganz 59. Aus Berlin die gute Nachricht: Elisa hat ein Mädchen zur Welt gebracht, Alba, wie der frühe Morgen.
In der Welt heute eine schöne Metapher für Luhmanns ominösen Zettelkasten: die »hölzerne Witwe«. Sie wird nicht noch einmal heiraten, auch wenn promovierte Freier sie umschwärmen, die Lust hätten, in ihr zu blättern. Sie ist zur Unverwendbarkeit befreit, obschon die Verehrer des Soziologen den Kasten zelebrieren wie Lenins Erben dessen Gehirn.
Man kann dieses Relikt eines Professorenlebens würdigen, wenn man es auf einem Spektrum von Hinterlassenschaften im allgemeinen anordnet. Deren Extreme bilden das intime Tagebuch und der Zettelkasten – beides, um in veralteter Sprache zu reden, »subjektiver Geist«, mit datiertem Atem und in einer Handschrift, die das Zittern des Tags festhält. Was beide Formen des Spurenhinterlassens miteinander verbindet, ist die Einsicht der
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