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Zeilen und Tage

Zeilen und Tage

Titel: Zeilen und Tage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Sloterdijk
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rêverie. Was träumt die Seele, wenn sie die ethisch besseren Lösungen imaginieren wollte?
    Jede Situation träumt die folgende. Die Moral ergäbe sich aus den wiederkehrenden Motiven in der Traumkette. Ich möchte schwören, die träumende Seele würde ein vornehmeres Ethos an den Tag legen als die alltäglich vernünftige.
    Nicht jedes von den Ratten verlassene Schiff ist ein sinkendes.
    Aus einem Buch mit erotischen Haikus:
    Auf den Rat des Arzts/Hin verschwindet/Ein Kopfkissen von/Seinem Lager.
    Im Goethe-Institut auf der Avenue d’Iéna beginnt heute vormittag ein zweitägiges Kolloquium über meine Arbeiten seit 1983 unter dem Titel Une anthropologie philosophique pour demain – Gelegenheit, in 15 verschieden gekrümmte Spiegel zu schauen.
4. März, Paris
    Régis Debray im freudianischen Ton: »Das Archaische ist nicht das Überholte, sondern das Zugrundeliegende.«
    In seinem Referat über die Komplementarität von Mediologie und Sphärologie sagt Daniel Bougnoux: Es gilt, die Bourdieusche Metapher des Feldes durch die der Sphäre zu ersetzen.
    »En peur et tremblement«, gibt Olivier Mannoni zu Protokoll, arbeite er seit zwanzig Jahren an der Übersetzung meiner Bücher; ich dürfte hinzusetzen, mit Furcht und Zittern lese ich die Ergebnisse seiner Mühen.
    Aragon: »Qu’est-ce le roman? Un monde où je peux habiter.«
5. März, Paris
    Was man »Gesellschaft« nennt, ist die Summe interidiotischer Verhältnisse.
    Tag der Wunder. Nicht-Alltägliches geschieht auf der Bühne des Théâtre de l’Odéon vor großem Publikum. Wann hat man so etwas gesehen? Die Schauspielerin Jeanne Balibar liest Auszüge aus einem voluminösen moralphilosophischen Buch, wobei sie erhöht auf den Stufen der Dekoration sitzt – man hört Besucher murmeln: »Elle a du chien!« Zwei junge Artisten aus der Zirkus-Schule Fratellini führen zwischen den Lesungen ziemlich riskante Akrobatiken vor, darunter einen Salto mortale auf den Schultern des Untermanns. Unterdessen sitzen Jean Birnbaum von Le Monde und ich wie Cafébesucher an einem Guéridon am linken Rand der Bühne, mit Mikrophonen ausgerüstet. In den Pausen zwischen Lesung und Akrobatik umkreisen wir in weitem Themenbogen das soeben auf französisch erschienene Buch Du mußt dein Leben ändern . Dies alles vor dem atmosphärischkongruenten Bühnenbild eines Stücks von Olivier Py, das eine riesige hohe Bibliothekswand zeigt. Nach zwei Stunden strömt ein berührtes, angeregtes, vielleicht begeistertes Publikum aus dem Saal. Wir sehen uns an, gemeinsam Zeugen des Ausnahmezustands, von Ereignisluft animiert.
    Die Gruppe der Aktiven durfte am Anschluß an die Soirée noch die gastronomische Gastfreundschaft des Theaters genießen. Olivier Py brachte den Effekt des Abends auf den Begriff, als er bemerkte, hätte man es länger geprobt, es wäre weniger gut gelungen.
7. März, Paris Karlsruhe
    Vor der Abreise ein munterer Dialog mit Žižek über die Krise des Kapitalismus in Marens Salon, moderiert von Nicolas Truong, der das Dokument demnächst in Le Monde bringen möchte.
8. März, Karlsruhe
    Keep you afloat. Rauchringe in der Sonne, Vormittagsstille, auf den Autodächern vor dem Fenster glitzernde Lichtflecken.
    Die Welt ist voll von falschen Analogien, kein Tag vergeht, ohne daß der Müllberg der mißratenen Vergleiche wächst. Nun möchte ein berufskonfuser Politologe, der für die Frankfurter Rundschau schreibt, den gestürzten Verteidigungsminister mit dem fürchterlichen Cavaliere auf eine Stufe stellen, der Italien seit 15 Jahren in ein Labor für die Politik niedriger Reflexe verwandelt hat. Allen Ernstes will der Mann in Deutschland ein anderes Berlusconistan entstehen sehen – ausgerechnet in dem Augenblick, in dem der Ausgang der Guttenberg-Affaire das Gegenteil davon beweist, nämlich daß die BRD die wehrhafteste, moralisch sprungbereiteste, nervöseste, wenn oft auch hysterischübersteuerte Demokratie Europas ausgebildet hat, in der Charismatiker kein leichtes Leben haben. Wo sonst macht man sich so viel Mühe mit der Unterscheidung von Charisma und Betrug? Wo gibt es so viele mißtrauische Kommentatoren, für die Betrug und Charisma von vornherein ein und dasselbe sind?
    Manchmal findet auch ein Korn ein blindes Huhn.
9. März, Karlsruhe
    Mallarmé: »Der Mensch mag Demokrat sein, der Artist spaltet sich ab …«
    »Plötzlich und unerwartet« kommt der Dichtertod: Mallarmé starb an einem Kehlkopfkrampf, der zu einem »prolongierten Glottisverschluß«

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