Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Zeilen und Tage

Zeilen und Tage

Titel: Zeilen und Tage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Sloterdijk
Vom Netzwerk:
um ihre Lieblingsnummern zu spielen. Ich habe Ulrich Beck vergessen, der immer gern Hannah Arendts Idee paraphrasiert, wonach das Wunder des politischen Handelns aus der Möglichkeit, neu zu beginnen, hervorgeht.
22. Februar, Strasbourg
    T. S. Eliot schreibt irgendwo, schwache Dichter imitieren, starke Dichter stehlen. Für schwache und starke Juristen fehlt eine entsprechende Devise.
    Ob es wahr ist, daß die Liebkosung, wie Sartre suggeriert, nicht ohne einen subtilen Anschlag auf die Freiheit des anderen auszuführen sei? Wenn das Gegenteil der Fall wäre – und die Liebkosung würde selbst zu einer Quelle von Freiheit?
23. Februar, Stuttgart
    Die arabischen Revolten erzeugen ein Nebenprodukt, das von den Wirtschaftsblättern noch nicht erfaßt wurde: Sie stellen die Forbes-Listen der größten Vermögen in einem wesentlichen Segment als Fiktionen bloß. In die Spitzenzone der Tabellen gehörten seit längerem die despotischen Kleptokraten von Mubarak und Ben Ali bis zu Putin und Gaddafi, die in den gängigen Listen der reichsten Royals von König Bhumipol bis Hans-Adam II. naturgemäß nicht auftauchen. Auch ein gut Teil der großen Vermögen ist bastardisch geworden.
24. Februar, Wien
    Auguste Romieu, der Urheber der Caesarismus-Doktrin, schreibt in dem Pamphlet Das rote Gespenst von 1852: »Es gibt keine französische Nation mehr. Es gibt in dem Land der alten Gallier nur noch geängstigte Reiche und gierige Arme, weiter nichts.« Was beweist, daß der Verfasser der Zeilen die Konsequenzen des 1851 ausgeführten Staatstreichs von Louis Napoléon noch nicht in seine Beobachtungen einbezogen hatte.
    Derselbe Autor notiert: »Die Aufhebung der Lotterie ist eine der Ursachen des Sozialismus, nicht in der Theorie, sondern im Gefühl.« (S. 147) Tatsächlich wurden im jakobinischen Regime die Glücksspiele unterdrückt, mit dem willkommenen Ergebnis, daß sich die Hoffnungslosigkeit und der Klassenhaß verallgemeinerten. Nur ein Verbot dieser Art konnte die monothematische revolutionäre Gesellschaft formen, die sich ganz auf ihre Feinde konzentriert. Als das zufällige Glück wieder erlaubt war, kehrten die Lotterien explosiv zurück.
    Romieu prophezeit, man werde neben der Göttin Vernunft, die 1793 zur Ehre des Altars erhoben worden war, bald auch »der Göttin des Neides« die Weihe erteilen. »O ihr Girondisten! Ihr einfältigen Kinder der Rhetorik und des Bakkalaureats …!« »Eure Advokaten, Robespierre und Danton, haben das Volk im Morden unterrichtet … Glaubt mir, das Volk wird schrecklich sein …«
    Die bürgerliche Anarchie-Furcht ist um die Mitte des 19. Jahrhunderts europaweit verbreitet, Romieu ist eine ihrer rabiateren Stimmen, zwar unsympathisch, doch gelegentlich luzide. Die Angst vor dem Ausbruch von Bürgerkriegen und Jacquerien ist im Bürgertum endemisch. In eleganteren Wendungen drückt Heinrich Heine ähnliche Sorgen aus. Doch während es den Dichter besonders vor den absehbaren Nachtigallenmorden durch die praktischen Barbaren graut, sieht Romieu ziviles Blutvergießen kommen – er empfiehlt dagegen die konservative Säbelherrschaft.
    Man hat sich selten klargemacht, in welchem Maß schon das 19. Jahrhundert von den Zeitgenossen als eine Epoche der Haß-Entfesselung wahrgenommen wurde. Die konservative Publizistik wählt von Anfang an psychologische Ausdrücke, um ihre Besorgnisse zu artikulieren – sie setzen Begriffe wie Haß, Neid, Zerstörungslust, Furcht, Rachsucht, Trunkenheit und ähnliche auf die Tagesordnung des sozialen Reflexion –, noch bevor es Disziplinen wie Soziologie oder Sozialpsychologie gab.
    Das Phänomen des Bonapartismus läßt erkennen, wie eng die sogenannte Postdemokratie an prädemokratische Prämissen rührt. Auf den Prinzipien der freien Volksmeinung und des Mehrheitswillens lassen sich diktatoriale oder monarchische Strukturen ebensogut errichten wie demokratische und partizipative. Der spätere Napoleon III. bringt diese Erkenntnis schon 1839 auf den Punkt: »La nature de la démocratie est de se personnifier dans Un homme.« Nach 1848 war es für Louis Napoléon natürlich, sich selbst in der Gestalt des Volkes zu lieben, das ihn überraschend mit so großer Mehrheit gewählt hatte.
    Gustav Seibt erwähnt in einer Betrachtung über den Fall zu Guttenberg im Kontext populistischer Politik von Cola di Rienzi bis Napoleon III. einen Satz von Metternich, wonach Prinzipien »drehbare Geschütze« sein sollen, die es denen, die sich auf sie berufen, im Notfall

Weitere Kostenlose Bücher