Zeilen und Tage
das Gute. Also soll ich nicht sein.« Es ist ein tragisches Versäumnis, daß Simone Weil nie den philosophisch ebenbürtigen Kritiker traf, der ihren Denkfehler mühelos aufgedeckt hätte. Indem sie einer extrem masochistischen Auslegung der griechischen Ontologie huldigte, sprach sie sich selber das Sein ab, und zwar mit schlechten Gründen, da sie dem hellen Grundsatz des Platonismus, wonach alles Seiende gut sei, eklatant untreu wurde. Sie schloß sich selbst aus der Sphäre der Teilhabe am Sein aus, vorgeblich, um sich more mystico in der reinen Gutheit aufzulösen, ohne Rücksicht darauf, daß sie an dieser kraft ihrer faktischen Existenz als denkendes Wesen auf unentäußerbare Weise teilnimmt. Seit jeher begnügen sich die metaphysisch Radikalen nicht mit der gebrochenen Teilhabe, sie fordern die Verschmelzung, sie lassen von der Maßlosigkeit der Einung nicht ab. So wurde Simone Weil zu einer späten Märtyrerin der einwertigen Ontologie, die noch immer zur Selbstauslöschung des Subjekts in der Substanz einlädt.
Die Medien berichten von starken koronaren Massenauswürfen auf der Sonne, die seit gestern beobachtet werden. Kein Wort davon, ob Vorgänge dieser Art von Menschen nervlich abgebildet werden. Statt dessen gibt es Hinweise auf Störungen der Stromkreise und der Radioübertragung in einigen Ländern. Was hätten Dichter und Musiker um 1910 aus solchen Beobachtungen gemacht! Damals, auf dem Höhepunkt der Antennen-Anthropologie, als Hugo Ball schreiben konnte: »Alle Welt ist medial geworden«, hätte sich eine Handvoll Sensibler direkt in die erhöhte Sonnenaktivität eingefühlt. Sie hätten nicht nur ihr eigenes Dasein als Fortsetzung des Sonnensturms mit nervlichen und symbolischen Mitteln begriffen, sie hätten behauptet, ab sofort selbst aufgebrachte Sonnen zu sein und koronare Sinnauswürfe zu liefern.
19. Februar, Karlsruhe
Sylvie Weils Erinnerungen beschwören Szenen herauf, in denen ein junges Mädchen, das sich nicht im geringsten für Mathematik interessiert, mit dem Gemurmel der Bourbaki-Gruppe im Haus ihres Vaters heranwächst. Sie fühlt sich geborgen im unverständlichen Klang der Stimmen von logischen Puritanern, die über die Möglichkeit einer Aufhebung der Geometrie in Algebra diskutieren.
20. Februar, Karlsruhe
Der Fall Karl-Theodor zu Guttenberg demonstriert, sieht man von der unbegreiflichen Leichtfertigkeit des Hauptdarstellers ab, wie schnell und scheinbar mühelos eine durchmediatisierte Öffentlichkeit, das Kollektiv der Gebildeten inbegriffen, sich in eine Hetzmeute verwandeln läßt. Neu ist, daß diese die Form eines Jagdrudels von Prüfern annimmt.
Den meisten Beobachtern entgeht die Komik des Vorgangs, die darin liegt, daß sich der Übeltäter nicht mit leuchtenden fremden Federn, sondern mit geliehenen Platitüden geschmückt hat. Der Königssohn hat Kieselsteine gestohlen und soll büßen, als ob es Juwelen gewesen wären. Wie bei allen Skandalen täte man gut daran, den Vorgang zu entdramatisieren, doch dies gelingt nicht, solange das Mediensystem Vorteile zieht aus dem riesenhaften Mißverhältnis zwischen dem Unrechtsgehalt des lokalen Fehlverhaltens und der globalen Aufmachung der Vorwürfe.
Im Licht der Mediologie kann man die Vorgänge ziemlich gelassen betrachten. Aufschreibesysteme sind Umschreibesysteme. Jeder wissenschaftliche Diskurs baut auf Paraphrasen von anderswo Gesagtem – das heißt auf Umformulierungen des state-of-the-art-Materials. Was man Plagiat nennt, ist der Grenzwert einer Paraphrase, die mit dem Paraphrasierten in eins fällt, so wie der Kreis eine Ellipse ist, bei der die beiden Brennpunkte koinzidieren.
21. Februar, Karlsruhe
Anderswo gibt es wirklich schwere Fälle von Fälschungsvergehen: Noch vor wenigen Jahrhunderten wurde im Orient für die Fälschung von Safran die Todesstrafe angedroht.
Die arabischen Rebellionen rufen die alten und jungen Steckenpferd-Reiter aus ihren Quartieren. Badiou gibt vor, von dem »essentiell kommunistischen« Charakter der Bewegungen überzeugt zu sein; Mehdi Belhaj Kacem will in Tunesien angewandten Situationismus erkennen; Olivier Roy sieht einen post-ideologischen, post-islamischen Orient auf der Straße; die Mediologen begrüßen die erste arabische Twitter-Generation als neues politisches Subjekt; die Demographen meinen, in den Demonstranten von heute die Akteure brudermörderischer Macht- und Verteilungskämpfe von morgen wahrzunehmen. Jetzt fehlennur noch die Habermasianer und Girardianer,
Weitere Kostenlose Bücher