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Zeilen und Tage

Zeilen und Tage

Titel: Zeilen und Tage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Sloterdijk
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führte. Solche Zwischenfälle werden oft von Panikattacken und Ohnmachtsepisoden begleitet. In den meisten Fällen löst sich der Spasmus spontan, gelegentlich kommt es zum »trockenen Ertrinken« – so nennt man die Atemblockade ohne Wasseraspiration, die man von Tauchunfällen kennt. Gibt es ein trockenes Ertrinken an ungesagten Sätzen?
10. März, Karlsruhe Zürich
    Im Feuilleton turnen die abgeklärt aufgeklärten Äffchen und beweisen mit Kopfständen, Salti und munteren Rädern, daß der Islamismus im Grunde ganz gutartig sei. Al Qaida wäre dann nicht mehr als eine Fiktion der Islamkritiker gewesen und Theo von Gogh bloß der sinistre Erfinder des suicide by muslim.
    Die Frankreichkorrespondenten der überregionalen deutschen Presse beschweigen das Event am Théâtre de l’Odéon so intensiv, daß aus dem Ereignis ein Nicht-Ereignis, doch aus der Nicht-Nachricht eine Nachricht wird – zumindest für die wenigen Zeugen, die den Verschweigeeffekt beobachten.
11. März, Zürich
    Die Wiesen über dem Zürcher See denken nicht daran zu lachen, lustlos liegen sie am Hang, erschöpfte Hinterbliebene des Winters, bedeckt von totem grauen Gras. Ihre Niedergeschlagenheit reicht bis an den milchigen Himmel, der auch nichts Besseres weiß, als tief über dem See zu hängen, zum Zeichen, daß von den Zürchern nichts zu erwarten sei außer der üblichen Gefaßtheit, mit der sie ihr Leben in Bodennähe abwickeln.
    Wer das Wort »Erinnerungskultur« benutzt, zahlt ab sofort 10 Euro in die Institutskasse und wird für den Rest der Woche von den Diskussionen ausgeschlossen.
    Vormittags im Fernsehstudio Aufnahmen zur »Sternstunde Philosophie« mit Katja Gentinetta, die mich über meine Thesen zu einer demokratischen Ethik der Gabe befragte. Dies ist in der Schweiz ein Thema mit viel geringerem Streitwert als in Deutschland, weil hier die etatistische Mentalität kaum Fuß gefaßt hat. Den Schweizer Steuerzahlern muß man nicht umständlich vorsagen, man halte sie für die Sponsoren des Gemeinwesens, sie begreifen sich als solche seit jeher und nicht bloß als nützliche Idioten eines strukturell vordemokratisch gebliebenen Fiskus. Dagegen scheucht man den deutschen Steueruntertanen aus der Duldungsstarre auf, wenn man ihm vorschlägt, zu bedenken, ob seine Beiträge zur Gemeinwesenkasse nicht besser als Gaben denn als Zwangstribute aufgefaßt werden sollten.
    Frau Gentinettas Outfit ließ ahnen, wie sie die Moderatorinnen-Rolle für sich deutet: Sie erschien im Studio in einer Reithose mit enger Kostümjacke, als wollte sie dem Gast zu verstehen geben, er möge sich als Turnierpferd fühlen und mutig über die Hindernisse springen, die sie in Form von Fragen vor ihn plaziert. Zuletzt war ich mir nicht sicher, ob wir ohne Abwurf über den Parcours gekommen waren, denn ein paar Mal hatte ich spürbar den Balken touchiert.
    Nietzsche entwickelt irgendwo die Idee, die seit der Antike geläufige Vorstellung einer notwendigen Äquivalenz von Schaden und Bußschmerz gründe in der ökonomischen Relation von Schuldner und Gläubiger. Die regulative Idee, daß alles Geliehene aufs Pünktlichste mit Zinsen zurückzuzahlen sei, muß schon relativ früh ins mythisch-religiöse Denken eingedrungen sein, anders ließe sich die Präsenz des händlerischen Bilds der Herz-Wägung in den ägyptischen Erzählungen vom Totengericht nicht erklären, das dem christlichen Jüngsten Gericht als Vorbild diente.
    Für die Alten erschien das Nichtzurückzahlen von Schulden als eines der verfluchenswertesten Vergehen – eine Unterlassungstat von abgründiger Verwerflichkeit. Daher wurde der schlechte Schuldner zum Objekt eines verbrieften Rechts auf grausame Mißhandlung seitens des Gläubigers. Als der Gläubiger aller Gläubiger erschien alsbald Gott selbst, der für die hartnäckigen Schuldner die schrecklichsten Höllenstrafen bereithält. Eine späte Spur des Rechts auf Mißhandlung des schlechten Schuldners durch den Gläubiger erscheint in dem heute völlig absurd wirkenden Shylock-Bond in Form eines Pfund lebenden Fleischs, aus der Gegend des Herzens geschnitten. Dieses hyperbolische Pfandnehmen drückte den Groll des Gläubigers aus, der sein Geld unter dem Risiko, es nie mehr zurückzubekommen, aus der Hand gibt. Auch der Kredit ist ursprünglich ein Teil des phobokratischen Regimes.
    Vor diesem Hintergrund läßt sich bestimmen, was die Moderne in moralgeschichtlicher Sicht bedeutet: Sie emanzipiert den Schuldner, zumal den großen, mehr

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