Zeilen und Tage
erlauben, in die andere Richtung zu feuern. Nota bene: Konservativ sein heißt, auf dem Rücken von Umsturzwellen reiten. Seibt sagt sehr gut: Der Konservative ist der Zweitgeborene der Revolution. Ein Narr, wer glauben wollte, dieser sei starren Grundsätzen verpflichtet.
28. Februar, Wien Berlin
Die beiden langen Gespräche mit Ulrich Raulff für den Katalog zur Ausstellung Schicksal. Sieben mal sieben unhintergehbare Dinge sind fast zu Ende redigiert. Nichts scheint reizvoller, als einen außer Dienst gestellten Begriff noch einmal mit einer leichten Tätigkeit zu beauftragen. Der Titel: Schicksalsfragen. Ein Roman vom Denken deutet diskret die Weiterbeschäftigung des Worts an, das die Altersgrenze überschritten hat.
An einer Stelle zitiere ich Gehlens Formel: »Beweglichkeit auf stationärer Basis« – das profundeste Wort über die aktuelle Weltform.
Vor dem Abflug nach Berlin ging mir in der Wartehalle ohne erkennbaren Anlaß der Satz durch den Kopf, den Wittgenstein vor seinem Tod der Frau seines Arztes auftrug: »Tell them I’ve had a wonderful life.« Ich erinnere mich an den Schock, den ich empfand, es muß vier Jahrzehnte her sein, als ich diese Äußerung zum ersten Mal hörte, und wie empört ich damals, in vermeintlicher Kenntnis seines, wie mir schien, psychologisch katastrophalen Lebens, zu dem Schluß kam, der Mann müssen gelogen haben bis zuletzt. Heute weiß ich vielleicht ein wenig mehr über die Kunst, Bilanz zu ziehen. Ich kann mir vorstellen, wie Wittgenstein in seinen letzten Stunden auf die gesamte Landschaft seines Daseins blickte und seine Arbeiten, seine Umwege, seine Krisen, seine Funde, seine Niederlagen und alles übrige in dem Prädikat »wunderbar« unterzubringen vermochte. Der höchste Scharfsinn bleibt zuletzt durch die Dankbarkeit mit der Menschlichkeit verbunden.
Enzensberger Aufsatz über das sanfte Monster Brüssel enthält einen bedenkenswerten Hinweis: daß auch Nicht-Imperien an Überdehnung scheitern können.
Im Foyer der Philharmonie spricht eine sehr hübsche junge Frau in Jeans und Lederjacke mich an, Anna Prohaska. Durch Jörg Widmann weiß sie bereits, daß wir bei Inanna, der weiblichen Hauptfigur der Babylon-Oper, an sie denken.
1. März, Berlin
Morgenlicht auf dem dunklen Glastisch im Hotelzimmer. Frei wie die totipotente Zelle, die keine Neigung spürt, sich zu spezialisieren. Themenloses Dasein, in Schwebe vor dem Eintreffen der Tendenzen.
Freiheit, Ungestörtheit.
Urteilskraft: die Fähigkeit, eine Prioritätenliste aufzustellen.
Dreifache Entstehung des Individuums: aus der Resonanz, aus dem Training, aus dem Freiraum.
2. März, Berlin Paris
Nach zu Guttenbergs Rücktritt tönt es aus allen Medien: Jeder ist ersetzbar. Man hat einen Prätendenten verglühen sehen, die Stelleninhaber atmen auf und freuen sich, daß der Beweis der Ersetzbarkeit einen anderen getroffen hat.
Noch wartet man auf eine Immunreaktion der Universitäten gegen die beispiellose Invasion der wilden Prüfer in abgeschlossene akademische Verfahren. Im Gespräch mit Thomas Macho im Vox am Potsdamer Platz kam die Idee auf, man müßte die Resultate von Prüfungsverfahren absolut stellen wie die Effekte von Priesterweihen oder wie die Entscheidungen von Schiedsrichtern im Fußball. Die Würde des Verfahrens ist nur zu sichern, wenn man ihre Ergebnisse eternisiert. Ein akademischer Titel sollte ein character indelibilis sein, gegen den kein späterer Einspruch mehr erhoben werden kann. Um so ernsthafter müssen die Verfahren geführt werden, die zur Titelvergabe führen. Andernfalls gäbe die Akademia sich selbst auf und träte ihre souveränen Prüfungsrechte an Plagiapedia ab. Der inquisitorische Mob würdezur Kommission und die Zeitungsredaktion zum Prüfungsamt. Es ist besser, einige nicht revidierbare Fehlentscheidungen zuzulassen, als die Verpöbelung der Verfahren in Kauf zu nehmen, die seitens der Presse und des Internets plötzlich wie ein demokratisches Grundrecht beansprucht wird. Nur für extreme Fälle sollte sich die Akademia ein Exkommunikationsrecht vorbehalten. Dieses wäre strikt intern zu handhaben und dürfte keinerlei Wechselwirkung mit externem Druck dulden.
Abends der Besuch bei Stéphane Hessel in seiner Wohnung im 14. Arrondissement, um ein dokumentiertes Gespräch zu führen, das ihm Gelegenheit zur Ausbreitung seiner Lebensphilosophie bieten soll.
3. März, Paris
Wie es wäre, wenn man die Moral nicht mit Imperativen beginnen ließe, sondern mit der
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