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Zeilen und Tage

Zeilen und Tage

Titel: Zeilen und Tage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Sloterdijk
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und P wie Pöbelei. Der Betroffene kann sich die Frage stellen, was er selber dazu beitrug, um so angepinkelt zu werden. Carl Schmitt würde sagen: Der Anpisser ist die eigene Frage als Gestalt.
31. März, Wien
    Vor lauter Wiederkehr der Religion vergißt man die psychopolitischen Realitäten der vergangenen Klerusherrschaft: Jahrtausendelang waren in Europa phobokratische Regime an der Macht, mit denen man die rohen Massen im Zaum zu halten versuchte. Jetzt, da die Furchtpolitik nicht mehr im selben Maß gebraucht wird, weil andere Zähmungen die Oberhand gewonnen haben, wandelt sich die Religion in eine Sehenswürdigkeit, ja in ein Ausflugsgebiet für den Seelentourismus.
2. April, München
    Gegen den Ereigniskult in der postmodernen Theorie: Ein legitimes Interesse an Ereignissen dürfen von der Sache her nur Historiker, Journalisten und Unfallversicherer geltend machen. Von Theoretikern erwartet man, daß sie die Serie freilegen, zu der das einzelne Vorkommnis rechnet. Statt dessen tanzen jetzt auch Philosophen ums Goldene Kalb Ereignis und wollen überall nur noch Singularitäten feiern.
    Der Kult als solcher ist gut datierbar. Er begann am 14. Juli 1790 mit dem Föderationsfest zur Erinnerung an den Sturm auf die Bastille ein Jahr zuvor. Dieses größte Massenspektakel auf Erden seit dem Zirkustrubel der römischen Antike gab den Auftakt zu der Reihe der revolutionsmimetischen Inszenierungen, die im Oktober 1917 und im Januar 1933 kulminierten. An diesem ersten erinnerten 14. Juli waren die Pariser zusammengekommen, weil ein Jahr zuvor das Wort Freiheit Fleisch geworden war und begonnen hatte, unter uns zu wohnen. Das hatte Folgen, die man bis zu den postmodernen Philosophen beobachtet. Sie sagen »Ereignis« und rollen fromm die Augen, doch sie wissen nicht mehr, daß sie von einer Revolution in der Vergangenheit reden.
    Das Tagebuch ist das literarische Medium der Gleichzeitigkeit. Aus diesem Grund stellt es auch das Vehikel der Belanglosigkeit dar. Kafka gibt den Idioten des Tages, wenn er beim Kriegsausbruch im August 1914 seinen Besuch im Schwimmbad notiert. In den USA wachsen die Zeltstädte, bevölkert von den Krisenverlierern. Idiotisch bin ich, wenn ich heute festhalte, wie im Garten die Krokusse aufgehen.
4. April, München
    Fürs Pantheon der Dumpfheit: ein Satz von Gerhart Hauptmann, dem deutschen Repräsentanztölpel vom Dienst, bevor Günther Grass das Amt übernahm: »Sprachschliff ist kalte Ausländerei.« Der gute Deutsche läßt es stehen, wie es kommt.
5. April, Karlsruhe
    Seit der Zeit Saladins liegt der Schlüssel zur Grabeskirche von Jerusalem in den Händen eines Mitglieds der muslimischen Familie Nusseibeh: Es schließt die Kirche täglich auf. Die Verwahrung des Schlüssels über Nacht ist das Vorrecht der Familie Joudeh. Kurzum, vornehm gesinnte Moslems sind seit 800 Jahren damit beauftragt, darauf zu achten, daß die Angehörigen der christlichen Sekten bei ihren Versuchen, die Kultstätte für sich zu reklamieren, sich nicht zu sehr in die Haare gerieten. Tatsächlich gibt es Bilder, die zeigen: Handgreiflichkeiten zwischen christlichen Klerikern im Umkreis der Kirche sind nicht unmöglich.
    Was im übrigen beweist, wie sehr Hegel protestantischen Projektionen nachhing, als er in einem illuminierten Abschnitt seiner Vorlesung zur Philosophie der Geschichte dozierte, die westliche Seele könne sich bei ihrer bewaffneten Wallfahrt zum Grab des Herrn nur die unvergeßliche Erfahrung holen, das wichtigste aller Gräber sei leer. So zeigt sich, warum das Wesen der Erfahrung die Enttäuschung ist. Erst der ausreichend Enttäuschte kann den katholischen Weg verlassen, den Weg zum Fetisch, den Weg zur Reliquie, den Weg zur Verwechslung von Körper und Geist. Hegel braucht die Grabeskirche nur noch, damit der entstehende protestantische Geist sich dort die heilsame Enttäuschung holt, kraft welcher er künftig weiß: Man darf das Absolute nicht länger unter der Form der Äußerlichkeit verehren. Für Hegel kann Europäer nur sein, wer weiß, daß er in Jerusalem nichts zu suchen hat.
    Wenige Wochen nach dem Erscheinen des Buchs wird die dritte Auflage in Auftrag gegeben, vom 31.-40. Tausend. Inzwischen liegt ein Stapel von Rezensionen vor, von denen der Autor die meisten nicht ohne unpublizierbare Nachgedanken lesen kann. Noch einmal Carl Schmitt: Auch der Schulterklopfer ist die eigene Frage als Gestalt.
    Beruf: Anomalist.
11. April, Grignan
    Italiens regierender Milliardär empfiehlt den

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