Zeilen und Tage
verstehen, die sich maßlos aufregen, weil die Banker das Hundertfache des einfachen Angestellten verdienen. Sie merken nicht, daß sie bei einer SM-Szene mitwirken, in der sie das moralische Genießen entsprechend teuer zu bezahlen haben.
Sexualsoziologen sagen, mit der Prügelstrafe in den Schulen stirbt die Empfindungsweise aus, die zur Domina-Erotik führt. In spätestens 15 Jahren, heißt es, werde diese Variante des sogenannten Liebeslebens erloschen sein.
Die Sendung zur Krise mit dem Marquardschen Titel: Die Kunst, es nicht gewesen zu sein gelang gerade so halbwegs. Bodo Kirchhoff überzeugte deutlich mehr als Beatrice Weder de Mauro, die »Wirtschaftsweise«, die durchweg sehr vorsichtig, unpointiert und ex officio redete. Sie hatte überdies ein klassisches Neo-Primadonna-Schema im Gepäck: einerseits vom Frauenbonus maximal profitiert zu haben, andererseits in der privilegierten Lage zu sein, jeden Hinweis auf ihre Vorzugsrolle in einer Männerwelt strikt ablehnen zu dürfen. Es sind jetzt mit einem Mal die erfolgreichen Frauen, die uns mit der These überraschen, daß Weiblichkeit und Sachlichkeit zwei Namen für ein und dasselbe sind.
Heideggers Sein und Zeit ist nur richtig zu lesen, wenn man das Buch zusammen mit den in den zwanziger Jahren zeitüblichen Grabmälern für den unbekannten Soldaten betrachtet. Die Botschaft beider Medien – Heroismus der Anonymität und Eigentlichkeit in der Namenlosigkeit – hat sich philosophisch wie denkmalpflegerisch als Verirrung erwiesen. Die zweite Nachkriegszeit in Deutschland ist zu einer sinnvollen Psychopolitik des Sich-einen-Namens-Machens zurückgekehrt. Jetzt braucht man kein Grabmal des unbekannten Soldaten mehr, statt dessen sind Kliniken für angeschlagene Prominenzen unentbehrlich, wie Bodo Kirchhoff sie in seinem Roman beschreibt.
21. April, Karlsruhe
Durch ein Link im Netz stoße ich per Zufall auf eine Seite, die sich mit dem Spätwerk des Münchener Idealisten Reinhard Lauthbefaßt. Auch wenn es gut vierzig Jahre her ist, daß ich für einige Semester Lauths Seminare besuchte, sind mir Hinweise auf seine spätere Produktion nie ganz gleichgültig geworden. Seine Verdienste als Editor der großen Fichte-Ausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften schienen lange unantastbar. Das obskure Übrige blieb vor der Öffentlichkeit verborgen.
Daß mir der Mann trotz seiner intellektuellen Brillanz, die auch den Gegnern imponierte, von Anfang an unheimlich war, erscheint im Licht seiner späteren Entwicklungen mehr als plausibel. Auf seine älteren Tage brach bei ihm eine muslimisierende Tendenz durch, die in der Verteidigung des Selbstmordattentats als einer koranischen Übersetzung der imitatio Christi kulminierte. Demnach wäre Christus der erste Selbsttöter auf der Linie des freiwilligen Sterbens für die Sache Gottes gewesen, und die Römer durften bei diesen Passionsspielen allenfalls als seelentote Erfüllungsgehilfen mitwirken. Jesus am Kreuz und der Koranschüler am Sprengstoffgürtel: Mit einem Mal derselbe Kampf.
Daß es in München einen ultrakatholischen Untergrund gab, konnte man schon vor Jahrzehnten wissen. Was kaum jemand registrierte, sind die Umstände, unter denen dieses Milieu zu einem regelrechten bajuwarischen Salafismus mutierte. Bei Lauth, dem Dostojewskianer, kehrten Denkfiguren des russischen Spiritualismus vom 1900 wieder – Solowjew, Berdjajew, Florenskij –, der keine Hemmungen kannte, den Vorwurf der »teuflischen Selbstüberhebung« auf die modernen Menschen anzuwenden. In diesem Kontext machen auch die berüchtigten Haßausbrüche Lauths gegen Hegel viel mehr Sinn – man erlebte sie damals wie grandiose Hagelgewitter, bei denen man besser nicht nach den Gründen fragte. Die philosophisch beklemmende Seite liegt in der Beobachtung, daß Lauth, der Fichte besser kannte als irgendwer, in dessen praktischem Idealismus alles wiederfand, was für einen deutsch-katholischen Weg zum Dschihad nötig war. Man müßte einmal die Parallelen zwischen Qutb und Lauth herausarbeiten, um Material zu einem Portrait des Monotheopathen bereitzustellen.
22. April, Amsterdam
Erstmals im Hotel Amrath, einem historischen Gebäude des holländischen Style Nouveau, ehemaliger Sitz einer Seefahrtsgesellschaft, patiniert und luxuriös, in gedeckten Farben und geprägt vom Duft imprägnierter Hölzer.
Nachts noch den complimentary drink des Hauses genossen, The Famous Grouse Whisky. Dabei geht mir durch den Kopf, was die immer so
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