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Zeilen und Tage

Zeilen und Tage

Titel: Zeilen und Tage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Sloterdijk
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fördert, verrät der Fall eines ultra-rechten Rabbis in Jerusalem, der seitens des Iran eine Wiederholung des Holocaust erhofft, damit das schon wieder völlig verirrte Volk Israel auf den wahren Weg zurückgeleitet werde. Die politische Wirkung derartiger frommer Delirien dürfte in die entgegengesetzte Richtung gehen: Wenn man schon die Phantasie kultiviert, vom Iran nuklear bedroht zu sein, werden die nicht ganz so orthodoxen Israelis daraus den Schluß ziehen, gegebenenfalls den ersten Schlag zu führen. Längst sehen sich die »Realisten« auf dem wahren Weg und sind entschlossen, nicht mehr von ihm abzuweichen, und wenn es den Präventivkrieg kosten sollte.
17. April, Karlsruhe
    Der Rückzug aufs Land ist keine wünschbare Option mehr, falls er es jemals gewesen sein sollte. Im Lauf des Lebens geht die Fähigkeit verloren, mit Ziegen und Olivenbäumen Konversation zu treiben. Selbst Rousseau, wenn nicht alles täuscht, hat es auf seine älteren Tage im Grünen nicht mehr lange ausgehalten.
    Beruf: Licht-Konservator.
    In allen großen Tätern nach 1815 war eine Spur von imitatio Bonapartes nachzuweisen. Der typische Täter von heute ist der Attentäter, der am Ende eines kurzen Maximums rauschhafter Aktivität sich selbst auslöscht.
18. April, Wolfsburg
    Es läßt sich nicht mehr übersehen, wie tief vielerorts die Krise genossen wird. Die Krisengewinner eröffnen ihre Büros in bester Lage. Kein Tag vergeht, ohne daß Krisenpfaue ihre Räder schlagen. Man darf sich wieder an Mangeleinbildungen freuen wie in den besten Elendszeiten. Endlich wieder arm, endlich von der Not der Notlosigkeit befreit! Die reiche Welt badet in Erbärmlichkeit wie Siegfried im Drachenblut.
    In seinem Anti-Feuchtgebiete-Roman Erinnerungen an meinen Porsche erzählt Bodo Kirchhoff ziemlich amüsant von einer Prominenten-Krisenklinik im Schwarzwald – mit vielen Römerbad-Anspielungen, die den Ortskundigen erheitern. Kirchhoff hat sichtlich seine Freude daran, den stupiden Hämorrhoiden-Kracher der Bestseller-Autorin Roche, die in ihrer Möse umhertappte wie eine Sandalentouristin in einer Tropfsteinhöhle, mit ihren eigenen Mitteln zu schlagen. Das gelingt ihm mittels einer gekonnten Version von Pulp-Fiction-Prosa. Der an seinem besten Teil verstümmelte Held führt eine Statistik an, wonach er in den letzten 20 Jahren seinen Porsche in 180 Garagen geparkt habe – »jede Vagina ist auch nur eine Sackgasse«. Hier bekommt man den wertvollen Rat, steile Vokabeln wie »Portfolio« und »strukturierte Produkte« öfter zu gebrauchen. Das Rezept von Kirchhoffs Prosa bewährt sich vollkommen: Du setzt das Niveau so weit unten an, daß du nur noch positiv überraschen kannst – der Effekt davon ist: Low selbst erscheint als eine Form von High.
    Wenn man sich erinnert, wie sehr Kirchhoff in seinen jüngeren Jahren auf Lacan schwor, bezeugt eine Wendung wie: »das Liebhaberwürstchen, das mein Vater war« (S. 221) eine bemerkenswerte Kehre. Von da ist der Weg nicht mehr weit zu den Sätzen Sartres über seinen Vater, diesen Fremden, der bei seiner Mutter nur den üblichen Preis für ein Kind, einige Samentropfen, entrichtet habe. Noch ein Schritt, und wir sind bei Kafkas erbitterten Notizen über die geistige Nullität seines Erzeugers, der ihn zeitlebens mit seiner primitiven Vitalität erstickte, ohne ihm zum Ausgleich eine religiöse Inspiration mit auf den Weg gegeben zu haben.
    Von einer Hamburger Hure hört man Positives: »Wirkliche Qualität wird sich immer durchsetzen.« Das klingt aufbauend, zumal vorerst noch Unlust die Szene bestimmt. Die Nutten warten, die Unfun-Generation geht ihre Umwege.
19. April, Wolfsburg
    Martin Walser zitiert in Angstblüte einen gewissen Reverend Ike mit dem Ausspruch: »Das Beste, was ihr für die Armen tun könnt, ist, nicht dazuzugehören.«
    Für die Politik wie für die Religion ist die Beobachtung informativ, daß echte Masochisten für den Genuß der devoten Position so gut wie alles geben. Die dominante Rolle ist unendlich weniger begehrt als die leidende, ja, man muß eine Menge Geld hinlegen, bevor sich jemand findet, der sie übernimmt.
    Man müßte die politischen Folgerungen aus der Tatsache entwickeln, daß die Position des Herren im Sado-Spiel die bezahlte ist, während die leidende, die genießende und die zahlende in eins fallen. Kein Mensch möchte wirklich der grausame Herr sein – aber wenn es sein muß, dann gegen exorbitante Belohnungen. Das ist es, was die Spießer nicht

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