Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Zeilen und Tage

Zeilen und Tage

Titel: Zeilen und Tage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Sloterdijk
Vom Netzwerk:
Opfern des Erdbebens von L’Aquila, die Tage nach dem Einsturz ihrer Häuser wie ein Camping-Wochenende zu erleben. Das ist die neue Form des Egalitarismus – alle sind gleich vor dem Gelächter von oben.
12. April, Grignan
    Er fängt nicht gut an, dieser Ostertag, mit feinem Regen, tiefhängendem Himmel und endzeitlichem Grau. Nicht daran denken, daß man 750 Kilometer in den verregneten Süden gefahren ist, während sich weiter nördlich, zu Hause, ein Sonnentag an den anderen reiht.
    In diesen Tagen erscheint ein Essay des jungen Cioran aus dem Jahr 1941: De la France . Seitens des Verlags heißt es, er sei eine Liebeserklärung an ein dekadentes Land. Eher dürfte zutreffen, daß Cioran damals den nationalen cafard studierte, um seinen individuellen mit ihm zu rechtfertigen.
    Cioran nennt die französische Kultur akosmisch, um ihre Naturferne hervorzukehren. Damit setzt er den exquisiten Ausdruck sinnwidrig ein, denn dieser bezeichnet neben der Gesinnung der Naturablehnung vor allem die Aversion gegen Gesellschaft(kosmos bedeutet bei Paulus: die Leute), und ebendiese gibt es bei den Franzosen kaum, da sie »für die Konversation geboren« sind, wie Valéry einmal über die Menschen im allgemeinen bemerkte.
    Über den deutschen Kirchturm der Gotik bemerkt Cioran: »ein vertikales Ultimatum an Gott«.
    Vom wirklichen Drama der Franzosen hat Cioran offensichtlich nie das Geringste begriffen. Im Jahr 1941 durfte man schlechterdings nicht mehr behaupten, sie seien das einzige Volk, das die Nostalgie nicht kenne. Wovon träumt Frankreich denn seit 1871, wenn nicht von den Zeiten vor der Niederlage? Und wovon träumte die konservative Hälfte des Landes im 19. Jahrhundert, wenn nicht von der Süße des Lebens vor der Revolution?
    Kaum eine vitalistische Sottise, die beim jungen Cioran nicht in konventionellster Weise aufgetischt wird. Er läßt Spenglers Thesen über das Schicksal des Abendlandes aufs französische Format schrumpfen. Alexandrinismus, cafard, Skepsis, Blasiertheit, Überwachheit, Historismus, Sensualismus (»der Magen wird zum Endzweck«), Dekadenz-Gastronomie (»l’heure du repas est la liturgie du vide spirituel«). Das Ganze ist purer déclinisme avant la lettre.
    Man versteht, warum Cioran dieses Elaborat zu Lebzeiten unpubliziert ließ. Er war ja der Anti-Soziologe par excellence, auf politischem, sozialem und ethnographischem Terrain konnte er nur Nonsense hervorbringen – zum Beleg die These: Reste von französischem »Leben« fände man nur noch in der Pariser banlieue. Er selbst erkannte bald, daß der zusammenhängende Essay ihn überforderte, und verlegte seine Ambition zum Vorteil aller aufs aphoristische Fach.
13. April, Karlsruhe
    Kurz entschlossen von falschen Ferienplänen Abstand genommen und nach Hause zurückgekehrt. Abends im Fernsehen Das falsche Gewicht von Bernhard Wicki, die beste Verfilmung einer Erzählung von Joseph Roth – pace Axel Corti. Sie bietet einige der erotischsten Szenen, die das deutsche Kino hervorbrachte, mit Evelyn Opela in der Rolle der schönen Eufemia, der Frau, die eigentlich dem reisenden Zigeuner »gehört« und doch, in dessen Abwesenheit, einen Sommer lang den traurigen Eichmeister glücklich macht, bis zu dem Tag, an dem er, auf ihr liegend, Grund fühlte, sie zu fragen: Wo bist du?
    Beruf: Brainfood-Berater.
14. April, Karlsruhe
    Zu Norbert Bolz’ Diskurs über die Ungleichheit ist eine Fußnote anzubringen. Natürlich war bei einem solchen Thema der Rückgang auf Tocquevilles Amerika-Buch unentbehrlich, und Bolz absolviert das Pensum wie gewohnt glänzend. Es fehlt nur die weitere Herleitung des Egalitarismus aus der Theologie. Ich vermisse den Hinweis, daß der Gedanke an die radikale Gleichheit als gemeinsame Verlegenheit der Sterblichen vor dem Unmöglichen entstanden ist. Aus dem scholastischen Satz: inter finitum et infinitum non est proportio folgt die spirituell-politische These, nach der alle endlichen Werte, größere wie kleinere, im (Un)Verhältnis zum Unendlichen gleich groß sind. Aus dieser Sicht war Egalitarismus zuerst nichts anderes als angewandte Mathematik. Christliche Demokratie – die humane Gemeinschaft von Königen und Bettlern – begann im Mittelalter als moralische Folgerung aus theo-mathematischem Denken.
    Was vom Krieg blieb: Männer, die Greuel mit angesehen hatten, dagegen nichts tun konnten und mit der Zeit jeden Stolz verloren.
16. April, Karlsruhe
    Wie der Glaube, der selig macht, die Rücksichtslosigkeit

Weitere Kostenlose Bücher