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Zeilen und Tage

Zeilen und Tage

Titel: Zeilen und Tage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Sloterdijk
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Attacke gegen Heidegger und seine angebliche »Einführung des Faschismus in die Philosophie« liefert ein weiteres Kapitel zu dem gewundenen Roman von der Haßliebe der Franzosen zur deutschen Philosophie. Seit geraumer Zeit spürt man mit besonderer Wollust Heideggers Irrungen seit 1930 nach. Es scheint die linksrheinischen Frustrationen zu mildern, wenn man über einen der Großen der Disziplin zu Gericht sitzen darf. Die Motive mögen begreiflich sein: Gerade in Frankreich, dem Mutterland des »Engagements«, spürt man die ständig akute Möglichkeit einer Überschwemmung des Denkens durch die Aktualität. Der Kollaps der theoretischen Abstandnahme steht in dieser Kultur, die unentwegt mit dem Militantismus spielt, immer unmittelbar bevor. Ebendiese landestypische Versuchung projiziert man gern auf die deutschen Nachbarn, die ihr – das muß man einräumen – im kritischen Moment auf üblere Weise erlegen sind, als es Franzosen je widerfuhr.
    In der Sache hatte der epoché-Zusammenbruch viel früher begonnen. Seine Urszene ereignete sich 150 Jahre vor Heideggers Lapsus auf dem Boden der französischen Hauptstadt, als Robespierre den Ausspruch tat, die Revolution bedeute die Verwirklichung der Träume der Philosophie. In ideenhistorischer Sicht ist die Subversion der Theorie durch die Nicht-Theorie bis auf Rousseau zurückzuverfolgen. Heideggers Beiträge zum »Denken im Sturm« reihen sich ein in eine Geschichte, die in der Französischen Revolution begonnen hatte, um im deutschen Vormärz mit der Wiedererfindung des ominösen Prinzips Praxis in ihre kritische Phase einzutreten.
    Fayes Studie ist nur als Teil eines seit Generationen praktizierten Leugnungsmanövers zu begreifen, das halbwegs überblicken sollte, wer Licht in die jüngere Ideengeschichte Frankreichs bringen möchte. Man ist dort noch immer nicht bereit, vor der eigenen Haustür zu kehren. Man zögert mit gutem Grund, denn wer könnte garantieren, daß die Franzosen bei einer Kritik der engagierten Vernunft nicht gewaltig Haare lassen müßten?
    Ein munterer Abend mit Christian und Ingrid Reder in Gesellschaft von Peter Weibel. Die beiden Herren können bizarre Geschichten aus der Frühzeit des Wiener Szeneblatts Der Falter erzählen, aus denen hervorgeht, daß bei den Machern der Zeitung Dankbarkeit weder zu den primären noch den sekundären Tugenden rechnet. Reder widmet mir ein Exemplar seines schönen Buchs Graue Donau, schwarzes Meer , in dem ein Essay vonWeibel über seine Geburtsstadt Odessa natürlich nicht fehlen darf.
28. März, Wien
    Finde in einer Filmkritik die Definition von Shopping als »kreditkartengestütztem Erwerb schöner Dinge«. Nicht schlecht, doch ein wenig schwächer, scheint mir, als die in Zorn und Zeit vorgeschlagene allgemeine Fassung des Begriffs »Konsum« als »kreditbasiertes Genußbeschleunigungsspiel«.
    Man hört von Initiativen zu einer Verfassungsklage gegen die Bundesregierung und ihre überaus gewagte Rettungsschirmpolitik des Euro, von der man annehmen darf, daß sie – bei Zugrundelegung von Daten mittlerer Wahrscheinlichkeit – früher oder später zu massiven Enteignungen durch Inflation führen wird.
    Man könnte in Fayes Anti-Heidegger-Buch eine Neuauflage von Julien Bendas Verrat der Intellektuellen aus dem Jahr 1927 sehen. Benda war der letzte Franzose, der sich der Welle des »engagierten« Denkens entgegenwarf, die er von deutschem Boden ausgehen sah. Von ihm, dem verrücktgewordenen Verteidiger der kontemplativen Vernunft, stammt der Satz, er würde ohne zu zögern auf den Knopf drücken, wenn es möglich wäre, dadurch das deutsche Volk und seine Kultur, diese »Pest der Welt«, auszulöschen – bereit, die wenigen Gerechten zu beweinen, die dabei schuldlos mit zugrunde gingen. Faye nimmt die Tradition der französischen Kampfgermanistik auf, indem er den Fokus seiner Aversionen auf das Haßobjekt Heidegger einstellt. Der habe die »Nationalsozialisierung« der Philosophie auf dem Gewissen – daher seien seine Schriften aus den philosophischen Seminarbibliotheken zu entfernen und im Giftschrank für NS-Literatur zu verwahren.
    Käme es auf tolldreiste Zuspitzungen an, wäre das nicht unwirksam pointiert. Ihr fehlt ganz und gar die »Fröhlichkeit derEmpörung«, die Léon Bloy der ironischen Literatur zurechnete. Das objektive Problem stellt sich jedoch ganz anders dar, als Faye junior es sich zurechtlegt. In der Sache wäre ein Prozeß zu führen über das Eindringen der Parteilichkeit

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