Zeilen und Tage
in der sich diese Stadt mit Wien und Paris messen wollte.
Über das Gellert, das abgeschlagene Hotel wie das mythische Bad, könnte nur ein erfahrener Feuilletonist berichten. Schon am Morgen geht es dort zu, als fände die Casting-Show für einen Fellini-Film statt, Stadt der Frauen , dritter Teil. Scharen fetter älterer Personen weiblichen Geschlechts mit Gummiblumenbadehauben strömen zu den Becken. Im Wasser entwickelt sich eine Art von Krötenprozession gegen den Uhrzeigersinn, immer ringsherum an den gewundenen Prunksäulen der großen Halle entlang. Man schwimmt eine Weile mit, bis man von der Aura der lokalen post-menopausischen Weiblichkeit vollgesogen ist und so versorgt für einen weiteren Tag im Reich der Melancholie aus dem Wasser steigt.
25. März, Budapest
Die Länder des ehemaligen Ostblocks haben durchwegs ein Problem mit der Rechtfertigung der Steuern. Konfrontiert mit Bevölkerungen ohne zivilgesellschaftliche Tradition, stehen die Regierungen vor der unlösbaren Aufgabe, die fast allgemeine Kleptokratie von unten (den Staat zu bestehlen galt bis vor kurzem als legitimer Volkssport – denn, wie das tschechische Sprichwort sagte: wer nicht den Staat bestiehlt, bestiehlt seine Familie) in eine legale Kleptokratie von oben umzuwandeln. In der letzteren soll die politische Klasse – oft von dubioser Konsistenz – das Volk der Steuerpflichtigen zur Kasse bitten, ohneihnen überzeugende Beweise zu liefern, daß mit dem für den Fiskus erzwungenen Geld Sinnvolles geschieht.
Sprach gestern länger mit einem Soziologen aus der ehemaligen DDR, der bei seiner Übersiedlung von Leipzig nach Budapest im Jahr 1985 sein Exemplar der Kritik der zynischen Vernunft nicht mitnehmen durfte.
26. März, Wien
Die Krise bewirkt, was nötig war, damit ein vergessener Bekannter aus der Gruft stieg: der Volkszorn. Laß zu, daß Managern bankrotter Banken riesige Boni bezahlt werden, und schreibe darüber täglich in den Zeitungen, und das Volk wird sein wie Gott und wissen, was gut und böse ist.
27. März, Wien
In der Frankfurter Rundschau findet sich ein Artikel, der an Golo Manns Rückkehr aus dem Exil erinnert. Im Jahr 1963 sollen Horkheimer und Adorno seine Berufung an die Frankfurter Universität verhindert haben, indem sie bei den zuständigen Stellen auf seine Homosexualität, seine »psychologischen Schwierigkeiten«, ja sogar seinen vorgeblichen »heimlichen Antisemitismus« anspielten, hübsch indirekt, doch wirkungsvoll.
Wir, die jungen Leser der älteren Kritischen Theorie, ahnten damals nicht, auf welcher Flamme die bewunderten Autoren ihre Suppe kochten. Keiner konnte sich einen Begriff davon machen, wie konsequent die Mannschaft um Adorno an der Absicherung ihrer Einflußpositionen arbeitete, innerhalb der Hochschule wie in den Medien. Außer den direkten Opfern ihrer Intrigen gab es praktisch niemanden, der seinerzeit bemerkt hätte, was diese Akteure sich erlauben konnten, moralisch gedeckt durch ihren Opferstatus, intellektuell gesichert durch ihre Stellung auf denKommandohöhen von Theoriekonstrukten, deren Schwächen man sich erst viel später zu bemerken gestattete. Ich erinnere mich recht gut: Als ich vor vielen Jahren auf die vernichtenden Urteile Hannah Arendts über Adornos Charakter stieß, dachte ich zuerst, das könne man wohl nur durch eine Idiosynkrasie bei der urteilsstarken Dame erklären. Es mußte viel Zeit vergehen, bis mir klar wurde, daß Arendts Äußerungen nichts mit ihren Empfindlichkeiten, aber viel mit ihrer moralischen Hellsicht zu tun hatten.
Von Tim Tsouliadis, The Forsaken . Diese Vergessenen sind jene US-Amerikaner, die während der Großen Depression der dreißiger Jahre in die Sowjetunion ausgewandert waren – erfüllt von den zeittypischen Hoffnungen, die sich binnen kurzem als Illusionen erwiesen. Es sollen einige Zehntausende gewesen sein. Dort hatten sie ihre Rolle als nützliche Idioten des Systems nach wenigen Jahren zu Ende gespielt. Zu großen Teilen gingen sie in Stalins Lagern zugrunde. Ihre Hilferufe wurden von den Beamten der US-Botschaft in Moskau verachtungsvoll ignoriert, auch die Mitarbeiter des Außenministeriums in Washington schenkten den Appellen der Verzweifelten keine Beachtung. In diesen Einrichtungen dachte man: Wer die USA freiwillig verlassen konnte, um in der Sowjetunion sein Glück zu suchen, hatte Besseres als Auslöschung nicht verdient.
Nehme die Gewohnheit wieder auf, abends Maupassants Novellen zu lesen.
Emmanuel Fayes heftige
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