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Zeilen und Tage

Zeilen und Tage

Titel: Zeilen und Tage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Sloterdijk
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in die Philosophie, wie man sie im Lauf der frühsozialistischen und junghegelianischen Nachspiele zur Französischen Revolution beobachtete. Es waren im 20. Jahrhundert vor allem französische Autoren, die das Parteilichkeitsdenken, das Bewegungsdenken, das Ereignisdenken in die Philosophie einbrachten, oft genug in flamboyanter Korrespondenz mit den Ungeheuerlichkeiten des Stalinismus und des Maoismus. Also: Woher die Abstinenz des Autors vor der Frage, wie denn die Aktualität insgesamt, und nicht nur die von 1933, ins Denken eingeführt wurde? Man prügelt den deutschen Sack, um den französischen Esel zu schonen.
29. März, Wien
    In seinem Interview mit dem Spiegel sagt Cohn-Bendit: »der Markt kennt das Wort Zukunft nicht«. Man glaubt zuerst, nicht richtig gelesen zu haben, denn was ist Marktwirtschaft, wenn nicht Kreditwirtschaft, und was wäre Kredit anderes als ein Spiel mit Erwartungen? Der Finanzmarkt handelt ausschließlich von der Zukunft, da er auf dem Glauben an Zurückzahlungen beruht. Dem ersten mißglückten Satz fügt Cohn-Bendit gleich den nächsten an: Man müsse den »Totalitarismus des Markts« hinter sich lassen. Hannah Arendt dreht sich im Grab herum, wenn sie hört, was aus dem Wort »Totalitarismus« geworden ist.
    Dann stellt der Spiegel eine Frage, die eine gute Antwort verdient hätte: Wieso die FDP, die Partei des Neo-Liberalismus, von der Krise im Augenblick so sehr profitiert? Cohn-Bendits Antwort fällt enttäuschend aus: Das komme eben daher, daß die Liberalen die Partei der Antisozialen sind und schäbige Egoisten anziehen. Man kann es als kein gutes Zeichen lesen, wenn Politiker nicht einmal pro forma den Versuch machen, die Positionen desGegners im Kontext allgemeiner Wertalternativen zu verstehen. Gefahr liegt in der Luft, wenn sie deren Thesen nur noch als Beweise für menschliche Wertlosigkeit abhandeln. Bei Wählerbeschimpfungen sollten die Grünen doppelt vorsichtig sein. Sie müßten wissen, daß sie und die Liberalen ihre Klientel aus demselben Reservoir gewinnen.
    Das grüne Dilemma ist evident: In Demokratien ist die Politik naturgemäß immer auf der Suche nach Popularität. Die grüne Kernbotschaft: »Wir müssen unsere Lebensweise radikal ändern und Opfer zu bringen lernen« kann aber niemals populär werden. Angesichts dieser Verlegenheit sagt Cohn-Bendit etwas sehr Kluges, das bedauerlicherweise ans Tragische grenzt: »Nur die Kombination aus Existenzsicherung und Transformation bietet eine nachhaltige Lösung der Krise.« Das besagt nicht weniger, als daß man, um die richtige Politik auf den Weg zu bringen, die Bevölkerung ins Unmögliche mitnehmen müßte: Das Kollektiv sollte wandlungsoffen sein wie am Vorabend einer Revolution und zugleich ruhig halten wie ein saturiertes Bürgertum. Wahrscheinlich ist das Dilemma der Grünen nie besser beschrieben worden.
    Am Abend in größerer Runde ins Kino: Slumdog Millionaire , im Urania am Donaukanal, immerhin auf bequemen Sitzen. Man läßt sich ja einiges gefallen.
30. März, Wien
    Enzensberger, der zu seinem 80. Geburtstag mit einem Riesensymposium in Marbach, dem Vor- und Nachlaßsanktuarium deutscher Sprachgewaltiger, gefeiert wurde, müßte zusammengezuckt sein, falls er noch zucken kann, als man ihn dort zum »Habermas der deutschen Lyrik« erklärte.
    Anläßlich des 70. Geburtstags von Volker Schlöndorff wird abends auf arte sein Film Die Verwirrungen des Zöglings Törless aus dem Jahr 1966 gezeigt. Das gibt Gelegenheit, zu überprüfen, ob Schlöndorffs forciertes Vertrauen zu den Laiendarstellern damals gerechtfertigt war. Die Antwort heißt eindeutig nein: Die Schülerclique um den Jungzyniker Beineberg, dargestellt von meinem damaligen Klassenkameraden Bernd Tischer, behielt die Akzente eines Anfängertheaters. Unreife Akteure mußten gewundene Sätze aufsagen, die Lichtjahre außerhalb ihres Verstehenshorizonts lagen. Ganz zutreffend war hingegen Schlöndorffs Intuition, daß, wer Stimmungen in autoritären Gemäuern aus der Zeit vor 1914 einfangen möchte, sich nicht weiter als von München nach Schäftlarn bewegen mußte. Als Atmosphärenkunstwerk behält der Film einen aparten Wert, indessen Henzes Musik das Ihre dazu tut, den Film in eine sehr ferne artistische Enklave zu bannen.
    Finde im Internet Salven von negativen Kommentaren über mein vor kaum 2 Wochen erschienenes Buch und seinen Autor. Von Anmaßung bis Zynismus ist alles im freien Angebot, mit Schwerpunkten bei H wie Herabsetzungswort

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